Die Erfindung des Jazz im Donbass
in genau dieser Besetzung unterwegs, nur dass meine Freunde damals nicht aussahen wie Zombies mit angemalten Extremitäten, alle waren jünger, wenn auch nicht milder gestimmt. Wie oft waren wir auf dieser Straße gefahren und zwischen den Hügeln herumgekurvt auf der Suche nach den verdammten und vergessenen Orten, wo die Gasler hausten? Seit wie vielen Jahren saßen die Gasler schon hier, wie die Polarforscher im ewigen Eis?
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Aufgetaucht waren sie Ende der Achtziger. Damals stellte sich heraus, dass sich hier, in den trockensten Gegenden, im Zwischenstromland, wo die Asphaltstraßen abbrachen und die Sowjetmacht nie Fuß gefasst hatte, dass sich hier, in der trockenen Schwarzerde, Gasquellen befanden. Irgendwo aus den Karpaten hatte man eine ganze Kolonie Gasler hergeschickt, die sich festsetzen sollten, um Gas zum Wohle des Vaterlandes zu fördern. Sie reisten von Nordwesten an, in einer langen Karawane, wie Zigeuner, den Dnipro hatten sie bei Krementschuk überquert. Sie lebten in Bauwaggons, die von schweren, schlammfarbenen Militärfahrzeugen gezogen wurden. Eine Feldküche führten sie ebenfalls mit. Inmitten unserer endlosen Felder waren die Gasler überwältigt von der Masse an Schwarzerde und dem Fehlen jeglichen Lebens. Das war etwas anderes als die Karpaten. Sie blieben, denn das Land brauchte Gas. Das Gas jedoch verbarg sich vor ihnen, es führte sie wie eine Truppe Mudschaheddin immer tiefer in die blaue süße Steppe, spielte mit ihnen, ärgerte sie, ließ sich aber nicht fassen. Anfang der Neunziger wurde die Suche eine Zeitlang eingestellt, aber schnell übernahm jemand von den neuen Mächtigen die Branche, und so blieb die Kolonie bestehen. Von Anfang an betrachteten die Einheimischen die Gasler mit Misstrauen; wenn sie mit ihren Zugmaschinen in die Stadt kamen, um Brot zu kaufen oder ins Kino zu gehen, stellte man ihnen Fallen und legte einen Hinterhalt, verprügelte sie ausgiebig und schmiss sie von den Tanzplätzen. Eins muss man ihnen lassen, die Gasler passten sich den neuen Gegebenheiten schnell an, kamen nur noch in Gruppen in die Stadt und veranstalteten nun ihrerseits ab und zu Raufereien mit der örtlichen Bevölkerung. Ein paar Mal wollten unsere Kleinmafiosi ihnen die Wohnwagen und die Gasfördertürme anzünden, aber die Miliz riet, sie in Ruhe zu lassen, denn die Gasler unterstanden dem Ministerium, wurden also direkt aus Kiew regiert.
Außerdem gründeten sie sofort eine Fußballmannschaft. Zwischen den Türmen, mitten auf den sonnenversengten Feldern, legten sie einen Fußballplatz an und machten alle fertig, die es mit ihnen aufnahmen. Sie spielten grob und waghalsig, und niemand konnte ihnen Paroli bieten. Niemand, außer uns. Wir waren würdige Gegner, und wenn wir einmal bei ihnen auf dem Feld verloren, dann nahmen wir bei uns daheim Revanche. Es war mehr als bloßer Sport, es ging um prinzipiellere Dinge. Die Gasler kamen auf ihren schlammverspritzten Schleppern in die Stadt wie ein Strafbataillon, mit dem Ziel, alles zu zertreten, was ihnen unter die Füße kam, und wenn sie sich auf dem Feld ihre Abreibung geholt hatten, verließen sie schnell das Stadion und lösten sich im blauen Dunst der mit Gespenstern und Gas gefüllten Steppe auf. Manchmal fingen sie direkt auf dem Platz eine Prügelei an. Dann erhielt unsere Obrigkeit hysterische Anrufe aus dem Kiewer Ministerium. Nach und nach verwilderten die Gasler immer mehr, kamen selten auf die Landstraße, anfangs hatte man ihnen gelegentlich noch Filme gebracht und Bücher aus der Bibliothek, aus denen sie sich Zigaretten drehten, später, nach dem Eigentümerwechsel, warf man Konserven und Boulevardzeitungen aus Hubschraubern ab, um ihren Enthusiasmus für die Produktion wenigstens irgendwie wach zu halten. Die meisten hatten sich an die Einsamkeit und die Monotonie der Landschaft gewöhnt und wussten eigentlich auch nicht mehr, wohin sie zurückkehren sollten – wohin kann man schon zurück, wenn man aus dem Nirwana kommt, das soll mir mal einer sagen. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie sie die ganzen Jahre gelebt hatten. Komisch, irgendwie wiederholte sich alles, alles kehrte zurück, zurück ins Nichts, zurück in die Leere.
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Groß und gelblich rot huschte die Sonne über uns hinweg, schrammte über das Dach, versank hinter dem nächsten Hügel und zog nach Westen, sie schleppte ihre Strahlen hinter sich her wie Algen in die offene See. Es war schon fast drei Uhr, langsam krochen wir über Feldwege,
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