Die Erfindung des Jazz im Donbass
dass wir uns immer wieder daran erinnern müssen, was mit uns und unseren Nächsten geschah. Das ist die Hauptsache. Denn wenn du dich erinnerst, wird es dir nicht so leichtfallen zu gehen. Jetzt aber genug, – schloss er, und sie begannen wieder zu singen.
Die Gäste hatten ihren Psalm von der Backsteinstraße, die wir an der Hand des Erlösers entlangwandeln, und von der gesellschaftlichen Unbill, die uns angeblich mit Prozenten zurückgezahlt werden wird, noch nicht zu Ende gebracht, als sich am Himmel die schwarzen Wolken von gestern zusammenzogen und ein Sturzregen losbrach. Die Menge stob nach allen Seiten auseinander, man versteckte sich unter den hohen nackten Kiefern, sprang über alte, in den Sand eingesunkene Grabsteine und rannte zu den Autos, die auf der Asphaltstraße zurückgeblieben waren. Der Regen floss in die Grube mit Tante Mascha, es war, als flösse er komplett hinein und drohe das Grab zu überschwemmen und an seiner Stelle einen See zu erschaffen. So schnell er konnte, krabbelte Kotscha nach oben und rannte den anderen hinterher. Auch ich beeilte mich, das Auto des Versehrten zu finden, bog aber irgendwo falsch ab, eilte den Falschen nach. Sehr schnell verirrte ich mich zwischen den Kiefern, rannte zwischen ihnen umher, verschluckte mich am Regen und klebte mit den Füßen im nassen Sand. Schließlich hielt ich bei ein paar Gräbern inne, um Atem zu schöpfen. Mein Blick fiel auf die Inschriften auf den Grabplatten. Zuerst verstand ich nicht. Trat näher, las erneut. Auf den Platten waren die Gebrüder Ballerlajeschnykow dargestellt. Alle drei. Der Regen lief über ihre Porträts, und sie sahen mich an wie Haie vom Meeresgrund. Genau so. Ballerlajeschnykow Baruch Salmanowytsch, las ich, 1968 – 1999. Neben Baruch waren verschiedene sakrale Zeichen in die Platte geritzt – Davidsterne, goldene Halbmonde und Pentagramme, Kronen und Vogelflügel, Rosenbüsche und alte Revolver. Auf der Platte daneben stand: Ballerlajeschnykow Schamil Salmanowytsch, 1972 – 1999. Neben Schamil war etwas in arabischen Buchstaben ausgeführt, und darunter waren Geburts-, Jagd- und Sterbeszenen dargestellt. Hirschjagd. Weiter, wie zu erwarten, befand sich das Grab Rawsan Salmanowytschs, 1974 – 1999. Auf seiner Grabplatte, unter dem Porträt des Verstorbenen, war eine traurige Frau mit offenem Haar und kurzem Kleid gemalt. Die Frau saß am Flussufer, unter einer zwergenhaften Birke, und seufzte schwer, offenbar nach Rawsan. Wie vom Donner gerührt ging ich weiter und versuchte, mich aus diesem schwarzen Ort zu befreien, zurückzukehren und mich an alles zu erinnern, und je weiter ich kam, desto mehr überwältigte mich die Verzweiflung, denn ich fand das Grab von Sascha Python, auf das Pferde gemalt waren, die irgendwelche irren Reiter trugen, und den Grabstein von Andrjucha Michael Jackson mit Marmorsäule und Goldbuchstaben und die schweren Granitplatten mit den Namen von Semen Schwarzer Schwanz, Dimytsch dem Schaffner, Krüppel-Kolja und Iwan Petrowytsch Futtertrog sowie die eher kleinen, aber feierlichen Skulpturen von Karpo Scharpo, mit einer ebenfalls aus Gips hergestellten Kreissäge in der rechten Hand, und Wasja Negativnik eingerahmt von zwei Thujas, und die Gräber von Gescha Pumpe und Sirjoscha dem Vergewaltiger und die mit Kreuzen geschmückte Gruft von Gogi dem Rechtgläubigen, und nachdem ich mich durch dichte Dornen geschlagen hatte, stolperte ich auf die Straße, genau vor die Kühlerhaube des Versehrten. Schura wunderte sich nicht, bremste nur und wartete, bis ich eingestiegen war. Als ich hineingesprungen war und ihm von dem erzählen wollte, was ich entdeckt hatte, kam er mir zuvor und sagte streng:
– Wo warst du? Olga hat angerufen, sie macht sich Sorgen um dich. Hat nach einer Brille gefragt.
– Nach einer Brille?
– Einer Brille. Du solltest vorsichtig sein, du siehst doch, was abgeht?
Ich sah, dass irgendetwas nicht stimmte, dachte an den abgefackelten Tankwagen und dass das vielleicht nur der Anfang wäre, auf einmal erfasste mich Sorge, Sorge und eine seltsame Erregung, die mein Herz dazu zwang, endlich die seltsam süßen Vibrationen zu spüren, von denen die Luft erfüllt war. Plötzlich konnte ich alles erspüren – die Musiker mit ihren alten Instrumenten, die durchdringende und falsche Töne von sich gaben, die Männer in schwarzen Anzügen, die mit einem Kran auf den Friedhof fuhren und das frische Grab mit Betonplatten verschlossen, damit sich in niemandem der
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