Die Erfindung des Jazz im Donbass
Wunsch rege, die letzte Ruhestätte der hervorragenden gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Repräsentantin Tante Mascha zu öffnen und ihr die Siemens-Kaffeemaschine zu entreißen. Außerdem erspürte ich die zwei Spanierinnen, die die Verstorbene bitterlich beweinten und sich dabei die Hände drückten. Und die beiden Cousinen Tamara und Tamila, nass bis auf die Haut, deren Kleider jetzt sanft die Schultern umschlossen. Auch Kotscha spürte ich, sein trunkenes Gekrächze und Gepfeife, mit dem er den Fahrer des Rettungswagens überreden wollte, ihn bis vors Haus zu fahren. Auch die Kinder mit den Bonbons in der Hand spürte ich, und wie leicht und sorgenfrei sie in diesem Regen dahintrabten, zum Klang der Hymnen, zuverlässig vor Tod und Unbill geschützt. Dieses frohe und schreckliche Gefühl rief nach sofortigem Anschluss ans Kollektiv, trieb mich zur Herde, die sich in Kotschas Wohnung drängelte, wer nicht mehr hineinpasste, stand im Hauseingang, auf den Stufen und Treppenabsätzen, keiner wollte gehen, und die Verwandten hätten das auch gar nicht zugelassen.
– Vor allem, – sagte der Versehrte, – darfst du dir das, was du hier siehst, nicht zu Herzen nehmen. Denn wer weiß, was noch kommt.
Wir gingen hinauf. Unterwegs rief Olga wieder an, wollte wieder wissen, wie es mir ging, und riet mir, auf mich aufzupassen. Selbst wollte sie jedoch nicht kommen. Der Leichenschmaus zog sich bis zum Hauseingang, Weinflaschen und Gemüseteller wurden auf die Treppe hinausgereicht, alle redeten laut, einer den anderen übertönend, vom Arbeitsleben der Verstorbenen. Zwischen dem zweiten und dritten Stock hing das Orchester fest, und als wir näher kamen, nickte mir der Trompeter zu und stimmte etwas von Parker an, als verkünde er Unheil. Wir drängten uns immer weiter, doch vor der Wohnungstür wurde Schura plötzlich von einer leichten, gewandten Hand gepackt, und ein Frauchen in mittleren Jahren, mit ausladendem Hintern, zog ihn die Stufen hinauf. Schura konnte sich noch umblicken und mir eine Warnung zurufen, aber ich verstand sie nicht mehr, da ich in die überfüllte Wohnung eintauchte. Im Wohnzimmer saßen auf einem Haufen die nächsten Verwandten und die Ehrengäste zu Tisch. In der Nähe der Tür bemerkte ich zwischen Tamara und Tamila Kotschas Glatze, dorthin bewegte ich mich, wobei ich auf Kinder trat und halb blinde Omas zur Seite stieß. Kotscha drehte sich um, sah mich und rief freudig aus:
– Harry, Freund, Gott sei Dank. Hier, – begann er mich bekannt zu machen, – ist Tamarotschka, die Tochter, verstehst du, der verstorbenen Alten. Und hier ist Tamilotschka, mein Schwesterchen, und überhaupt, Hermann, du musst schon verstehen, dass man es nicht leicht hat in einer großen Familie.
Tamara und Tamila sahen mich aufreizend und mit unverhohlenem Interesse an. Kotscha kreiste um den Tisch, setzte mich auf seinen Platz und verschwand in der Menschenmenge. Tamara und Tamila begannen sofort, mich zu bedienen. Schenkten mir beide Wein ein und achteten streng darauf, dass ich trank und nicht redete. Wobei ich eigentlich selbst nicht wusste, was ich ihnen mitzuteilen hätte, darum trank ich schweigend auf die dahingegangene Seele. Es gelang mir nicht, die beiden auseinanderzuhalten. Ich glaubte mich nur zu erinnern, dass ich Tamila in der vergangenen Woche vor dem Laden im Zentrum gesehen hatte, sie hatte ein kurzes rotes Kleid getragen, ich war aber nicht sicher, ob sie es auch wirklich gewesen war, daher fragte ich sie auch nicht danach.
Nach einer gewissen Zeit löste der Leichenschmaus sich auf. Jemand eilte davon, ein anderer nahm seinen Platz ein und brachte Toasts auf die Liebe und die Treue aus, Ernst stritt mit dem Priester über Rassentoleranz, aus der Küche trug man den Körper des bewusstlosen Kotscha ins Nebenzimmer. Tamila und Tamara sahen das und wurden ganz scharf. Ihre Augen füllten sich mit bitterer finsterer Trauer, in diese bitteren Augen blickte ich hinein und erinnerte mich langsam an alles, was ich damals so gründlich vergessen hatte. Es kamen immer mehr Menschen, schwer zu sagen, woher und wie sie alle in diesen Wänden Platz fanden. Gegen Mitternacht, ganz benommen vom Geschrei und Gesang, entschuldigte ich mich und machte mich auf die Suche nach einem Ort zum Pissen. Aber in der Toilette standen alte Frauen und rauchten aus schweren Tonpfeifen. Eine streckte mir sogar ihre Pfeife hin. Ich nahm einen Zug. Die Pfeife war heiß, wie das Herz eines Langstreckenläufers.
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