Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
Vom Netzwerk:
versanken. Wir machten uns auf den Weg Richtung Menschenmenge.
    Die Einheimischen freuten sich über uns. Ein kleiner Kerl im Anzug und mit buntem Tuch anstelle der Krawatte, wohl der Gemeindevorsteher, kam die Treppe herunter und küsste sich nach einem mir unbekannten Brauch lange mit dem Priester – fünf Mal hintereinander. Anscheinend waren sie alte Freunde und hatten sich viel zu erzählen. Der Vorsteher bat uns dann aber, sofort einzutreten, sagte, es sei nicht viel Zeit und man müsse schnell und entschlossen vorgehen.
    – Danach können wir reden, – fügte er hinzu und stieg die Treppe hinauf.
    Der Priester folgte ihm. Die Menschenmenge trat brav auseinander, um den Weg frei zu machen. Schnell lief auch der Fahrer durch den lebendigen Korridor. Hinter ihm stieg Tamara hinauf und warf mir einen besorgten Blick zu. Ich drehte mich zu Goscha und Sirjoscha um.
    – Kommt ihr mit? – fragte ich.
    – Ich geh noch auf einen Sprung nach Hause. – Goscha tänzelte und versteckte die Machete hinter seinem Rücken. – Mich umziehen fürs Fest.
    – Und du? – rief ich Sirjoscha zu.
    Der winkte nur, wahrscheinlich hatte er die Frage nicht gehört. Die Einheimischen drängten nach. Also ging auch ich die Treppe hoch.
    Der dunkle Korridor roch nach Kühle. Es handelte sich um die Lokalverwaltung oder irgendeine Dienststelle. Am Ende des Korridors konnte man eine Tür erkennen, vor der sich die Leute drängten. Hinter der Tür befand sich die Aula, ziemlich groß für so eine Gemeinde. Sie war bescheiden ausgestattet – die Bühne mit rotem Samt drapiert, in der Mitte traten deutlich Lenins Konturen hervor, früher hatte hier wohl sein Profil gehangen, dann hatte man es abgenommen, der Stoff war inzwischen ausgebleicht. An der Stelle des Leninkopfes hing jetzt ein Kruzifix. Von weitem sah es aus, als hätte jemand den Marxismus-Leninismus dick durchgestrichen. Im Saal standen Holzbänke in geordneten Reihen. Unsere Leute waren schon auf der Bühne, der Gemeindevorsteher mit dem Halstuch schwänzelte um sie herum und gab energische Erläuterungen. Die Einheimischen nahmen ihre Plätze ein. Tolik trat auf mich zu.
    – Gefällt es dir?
    – Ist das euer Klub? – fragte ich.
    Er zog die warme Jacke aus, darunter trug er ein Matrosenhemd. Das Gewehr lehnte er vorsichtig an die nächste Bank.
    – Die Kirche, – sagte er.
    – Im Ernst? – fragte ich ungläubig.
    – Ja, die Kirche. Aber auch unser Klub. Wir verbinden beides, klar?
    – Klar.
    – Unser Glaube erlaubt so was, – versicherte der Einäugige.
    – Ich versteh schon.
    – Der Pope weiß Bescheid.
    – Ja.
    – Wirklich.
    – Lass doch, ist schon okay.
    Der Priester stand bereits auf der Bühne; er rief mich, und ich kämpfte mich durch die Menge nach vorn. Er war konzentriert und erteilte klare Befehle. Sjewa holte eine Ledertasche mit dem notwendigen Inventar heraus, Tamara richtete sich die Haare und stellte sich wortlos in den Hintergrund.
    – Na, Harry, – fragte der Priester, – bist du bereit?
    – Ja, – antwortete ich. – Wollen wir anfangen?
    – Genau, – sagte er zuversichtlich. – Deswegen sind wir ja hergekommen. Eben deswegen.
    *
    Drei Monate freigebigen Sonnenscheins. Sand in den Kleidern und zwischen den Zähnen, eine Stille, die das Blut stoppte und die Träume verdichtete, so dass sie ineinander übergingen und das Aufwachen lang und unruhig machten. Schwarzbrot und grüner Tee, aus denen die Zeit bestand, der Raum sich bildete, Zucker in den Taschen und auf dem Laken, Geruch von Gras und Motorenöl, die morgendlichen heiseren Zurufe, die harmonische Arbeit des Regens, der träge über die leeren Konservenbüchsen lief, müde wie Arbeiter am Ende einer zermürbenden Schicht. Die Radiowellen in der Grenzregion, die gleichzeitig Nachrichten aus zwei Staaten sendeten und über Trockenheit und heraufziehende Niederschläge informierten. Frauenstimmen berichteten von Hitze, die in fernen, von hier aus unerreichbaren Städten herrschte, sie beschwerten sich über dicke Luft und Lärm, träumten von Reisen und kühler Frische. Von hier aus wirkte das alles unecht und berauschend, man wollte sich in ihr leichtes Ausatmen hineinhören, in ihr Lachen, das sie sich gegenseitig zuwarfen, man wollte ihnen in die Augen schauen, wenn sie von Wechselkursänderungen berichteten. Der Sommer war so dicht, dass es kein Entkommen gab. Jeden Abend nach Feierabend schlossen wir das Kassenhäuschen ab, ließen uns auf die Sofas fallen und hörten

Weitere Kostenlose Bücher