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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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Handy. Ich wählte die Nummer meines Bruders. Erst klingelte es. Plötzlich klickte es, und ich hörte eine weibliche Stimme.
    – Hey, – sagte die Stimme. – Wie geht’s?
    – Wem – mir?
    – Was heißt hier wem? Wie steht’s denn so?
    – Ganz gut, – antwortete ich. – Und wer bist du?
    – Und wen rufst du an?
    – Meinen Bruder.
    – Der bin ich nicht. Und was wolltest du?
    – Mit ihm reden.
    – Dann rede doch mit mir, – die Frau lachte. Wenn du willst, erzähl ich dir eine Gesichte, die mir passiert ist.
    – Hast du wirklich eine Flatrate? – fragte ich Lolik, und, als der zustimmend nickte, antwortete ich in den Hörer: – Erzähl.
    – Schon als Kind hatte ich Höhenangst. Auch vor dem Fliegen hatte ich immer Angst. Als ich erwachsen wurde, wollte ich diese Angst überwinden. Buchte genau deswegen immer wieder Flüge und flog. Die ganze Zeit.
    – Und dann?
    – Nichts. Ich habe immer noch Höhenangst. Dafür habe ich die Welt gesehen.
    – Und wie geht es dir jetzt?
    – Gut, – sagte die Frau. – Das Problem war gar nicht die Angst. Ich hab mich einfach entspannt, und alles wurde gut. Entspann dich auch, verstanden?
    – Verstanden.
    – Na dann, – lachte sie und verschwand aus dem Äther.
    – Da, – ich reichte Lolik das Handy.
    – Alles gut? – fragte er.
    – Ja, – antwortete ich, – gut. Alles gut.
    *
    – Kotscha, – fragte ich, – erinnerst du dich an 1990 ? Den Kampf im Park, beim Restaurant?
    – 1990 ? – fragte der Alte misstrauisch.
    – Ja, im Juni.
    – Nööö, – antwortete Kotscha nach kurzem Überlegen, – ich erinnere mich an keinen Kampf. Ich, Kumpel, hab den Juni 1990 in Gursuf verbracht, mit Tamara. Und dort, Harry, gab es wirklich einen Kampf. Am Strand. Ich war nur für einen Moment weggegangen, du glaubst es nicht, und schon . . .
    *
    Nachts gleicht der Himmel schwarzen Feldern. Wie die Schwarzerde ist die Luft von Samenkörnern erfüllt und voller Bewegung. Die endlosen Flächen, die sich oben ausbreiten, leben nach ihrem eigenen Rhythmus, ihren eigenen Gesetzen. Im Himmel stecken Sonnen und Sterne, in der Erde – Steine und Wurzeln. Im Himmel liegen die Planeten, in der Erde die Toten. Aus dem Himmel fließt der Regen, aus der Erde fließen Flüsse. Der Regen, nachdem er heruntergefallen ist, fließt nach Süden und füllt den Ozean. Der Himmel verändert sich dauernd, flammt auf und verlischt, bläht sich mit Feuchtigkeit und füllt sich mit Augusthitze. Die Krume lässt sich von Gras und Bäumen auslaugen und liegt unter dem flachen Himmel wie vergessenes Vieh. Wenn man den Ort richtig wählt, dann kann man das alles gleichzeitig spüren – wie sich die Wurzeln ineinander verflechten, zum Beispiel, wie die Flüsse fließen, wie sich der Ozean füllt, wie im Himmel die Planeten vorbeifliegen, wie auf der Erde die Lebenden, im Jenseits die Toten gehen.

ZWEITER TEIL

    1
    Der Priester schaute versonnen in den Morgenhimmel, da tauchten sie auf, aus den gelben Maisstengeln, die wie Kleiderbügel klapperten in einem leeren Schrank. Eine Zeitlang war schwer auszumachen, wer sich da aus dem Maisdickicht hervorkämpfte, kurz tauchte eine schwarze Jacke auf, die Stengel bogen sich knisternd zur Erde, Atemdunst stieg hoch. Plötzlich brachen sie durch die sandgelben Blätter, der morgendliche Reif fiel ab, und sie purzelten auf die Straße. Sie waren zu dritt – zwei Erwachsene und ein Junge. Der Vorderste trug eine knielange Trainingswinterjacke von AC Mailand und Armeestiefel. Die schwarzroten Clubfarben schimmerten dunkel in der dumpfen Oktobersonne. Er war unrasiert und langhaarig, mit prüfendem, aber unstetem Blick. Ihm folgte ein Kleiner mit Bierbauch, in weißer Malerhose. Seine Haare waren grau und kurz, er trug chinesische Nike-Schuhe. Der Junge sah am schlimmsten aus. Er hatte gefälschte Dolce&Gabbana-Jeans und eine schwarzglänzende Jacke an, die mehrere Brandlöcher aufwies, und rechteckige Schuhe, auf dem Kopf trug er Koss-Kopfhörer, wohl ebenfalls gefälscht. Ohne sich abzusprechen, bewegten sich alle drei in unsere Richtung. Ich warf dem Priester einen kurzen Blick zu. Sein Gesicht ließ Unsicherheit erkennen, die er zu verbergen suchte. Insgesamt hielt er sich gut. Ich griff in meine Taschen, erst da fiel mir ein, dass ich fremde Kleider trug. Überraschend ertastete ich in der rechten Tasche einen Schraubenzieher. Spürte mit den Fingerspitzen, dass er angeschärft war. Gott sorgt für mich, dachte ich und lächelte den Priester an.

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