Die Erfindung des Jazz im Donbass
Radio, den Apparat hatte Kotscha einem Fernfahrer aus den Rippen geleiert. Manchmal schlief ich beim Wunschkonzert ein, wurde dann von langen traurigen Gesprächen wieder wach, die Rundfunkprediger untereinander führten. Für die war man am frühen Morgen besonders empfänglich, wenn einem leicht wurde und man gar nicht mehr schlafen wollte. Frühmorgens diskutierten sie über das Fasten und lasen aus den Büchern der Propheten, unterbrochen vom Wetterbericht, der ihre Predigten abrundete und einen optimistischen Akzent setzte. Drei Monate guten Schlafs, besten Appetits und sentimentaler Stimmung. Ich hatte schon vorher gewusst, dass es manchmal gut sein kann, Bekanntenkreis, Beschäftigung, Vornamen, Nachnamen und Haarfarbe zu ändern, und jetzt spürte ich das alles am eigenen Leib. Meine Haare bleichten aus und wuchsen, im Juli hatte ich angefangen, sie nach hinten zu kämmen, im August schor mich Kotscha mit einer erbeuteten deutschen Schere. Meine Kleidung starrte vor Schmutz, sie roch nach Benzin und Wein, ich kaufte mir schwarze Militär-T-Shirts und ein paar Hosen mit unzähligen Taschen, wo ich all die Schrauben, Schlüssel und Glühbirnen aufbewahren konnte, die mir in die Hände kamen. Der Beschäftigungswechsel, die ernsthaften Menschen an meiner Seite, vielleicht war es das, was mir mehr Besonnenheit und Selbstsicherheit verlieh. Frische Luft kühlt den Kopf und wärmt das Herz. Alle fand ich sie wieder, meine alten Bekannten, meine alten Lieben, meine Lehrer, meine Feinde. Die alten Bekannten freuten sich aufrichtig über meine Rückkehr, aber das war’s dann auch. Die alten Lieben zeigten mir ihre Kinder und erinnerten mich daran, wie die Zeit vergeht, die uns Weisheit, aber auch Cellulitis beschert. Die Lehrer suchten bei mir Rat, und die Feinde baten mich, ihnen einen beliebigen Betrag zu borgen, damit sie ihr im Grunde bedauernswertes Leben weiterführen konnten. Das Leben ist hart, aber gerecht. Und manchmal einfach nur hart.
Am Wochenende kickten wir, der Versehrte und ich. Aus der Stadt kamen Horden von Berufsschülern, die es für eine Ehre hielten, in einer Mannschaft mit dem berühmten und dickbauchigen Stürmer zu spielen. Wir hatten viel Arbeit, aber daran hatte ich mich gewöhnt. Olga und ich redeten nicht miteinander. Meine ehemaligen Freunde tauchten nicht mehr auf. Die Schulden hatte ich ihnen erlassen. Geld gaben mir Kotschas Zigeunerverwandte. Ich hörte auf, meinen Bruder anzurufen. Nachts träumte ich von Flugzeugen.
Die Probleme mit der Tankstelle lösten sich mit der Zeit in Wohlgefallen auf. Anfangs hatte ich gespannt auf eine Fortsetzung gewartet, mich auf Brandstiftung und Todesopfer eingestellt und mich in der Stadt um die Unterstützung von Bekannten bemüht. Aber alles blieb ruhig, und man riet mir, die Probleme erst anzugehen, wenn sie sich stellten. Allmählich kam ich zur Ruhe und nahm die Dinge, wie sie kamen. Obwohl der Versehrte warnte, nichts gehe spurlos vorüber, jemand würde sich bestimmt noch das Genick brechen. Mag sein, dachte ich, mag ja sein.
Mit dem Herbstanfang kam vieles in Bewegung, Karawanen von Lastwagen zogen gen Norden, um Feldfrüchte auf die Märkte zu bringen. Der September war warm und golden, die Sonne blieb für einen Augenblick über den Zapfsäulen hängen, bevor sie schnell weg von der Landstraße Richtung Westen rollte und den Gemüsetransportern den Weg leuchtete. Manchmal kam Ernst vorbei und erklärte dem Versehrten die Feinheiten der Panzerschlachtführung bei Tag und bei Nacht. Dies brachte den Versehrten in Rage, er zog sich in die Werkstatt zurück und machte sich ans Zerlegen des nächsten Wagens, als wäre es ein Schlachttier. Ab und zu, wenn es nicht zu heiß war, kam der Priester angeradelt, mit dem ich mich bei der Beerdigung angefreundet hatte. Er führte lange Gespräche und blieb oft bis spät in die Nacht, und dann machten wir das Radio an und hörten den Predigern zu, die in fernen Städten saßen und offensichtlich genauso wenig wie wir wussten, womit sie ihre schwarzen verzweiflungsschwangeren Nächte füllen sollten. Manchmal brachte der Priester etwas zu Lesen mit. Als er die Parker- CD s entdeckte, fragte er, ob ich mich wirklich für Jazz interessiere, und brachte mir am nächsten Tag einen speckigen Wälzer über das Entstehen der Jazzszene in New Orleans mit. Eine Zeitlang versuchte er mit mir über die Freikirchen zu reden; da ich der Religion aber völlig gleichgültig gegenüberstand, gab er bald
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