Die Erfindung des Lebens: Roman
einfach auf und davon zu machen und nicht zu verraten, was sich hinter dieser Flucht verberge, das sei respektlos und unaufrichtig, und so etwas Respektloses und Unaufrichtiges ertrage sie nicht.
Ihre Unruhe, ihre Verbissenheit, ihr ganzer Furor – das alles ließ mich nicht los, ja es trieb mich sogar an, als wäre ausgerechnet ich dazu berufen, Licht in die reichlich dunkle Geschichte zu bringen. Manchmal begegnete ich Antonias Mann noch immer im Treppenhaus, wir grüßten uns weiter kurz, er konnte ja nicht ahnen, dass ich mir überlegte, ihn direkt zur Rede zu stellen: Nun heraus mit der Sprache! Oder, noch etwas dramatischer: Sie Lump, ich erwarte eine Erklärung! Oder, in einer eher melodramatischen Version: Darf ich Sie auf einen Drink einladen?
Statt auf eine Klärung der Geschichte zu drängen, sagte ich nichts, so dass es mit den Vermutungen und Verdächtigungen weiter und immer weiter ging. Doch damit nicht genug: Antonia erklärte mir, dass sie wegen der Trennungs- und Scheidungs-Geschichte durcheinander und nicht recht zurechnungsfähig sei und aus diesem Grund den Noten des Italienischen Konzertes einen in der Tat unmöglichen Fingersatz verpasst habe. So etwas sei ihr noch nie passiert, sie schäme sich, außerdem aber schäme sie sich auch, weil sie es in den letzten beiden Jahren versäumt habe, ihrem fleißig Klavier übenden Kind einen guten Lehrer zu beschaffen. Sie selbst sei jedenfalls keine gute Klavierlehrerin und sie habe sich auch nicht für eine solche gehalten, sie habe vielmehr nur die Aufsicht über das Klavierspiel ihrer Tochter geführt, und das sei eindeutig zu wenig gewesen!
Natürlich ahnte ich, worauf sie hinaus wollte. Sie bettelte darum, dass ich Mariettas Klavierunterricht übernahm, und sie verband diese Bettelei mit der Nebenabsicht, mich noch detaillierter mit ihren Eheproblemen vertraut zu machen.
Nun war Antonias Eheproblem die eine Seite unserer gemeinsamen Geschichte, Mariettas Klavierspiel aber eine durchaus andere. Beide Seiten hatten nicht unbedingt etwas miteinander zu tun und bedurften deshalb getrennter Betrachtung. Ein Klavierlehrer wollte ich nicht gerne sein und war es ja auch bisher mein Leben lang nicht gewesen. Wohl aber fühlte ich mich verpflichtet, der kleinen Marietta zu helfen, einen gescheiten Klavierlehrer zu finden.
Das Angebot, das ich Antonia machte, war deshalb von, wie ich finde, salomonischer Weisheit: Ich erklärte, dass ich Marietta für eine gewisse Übergangszeit unterrichten, mich aber gleichzeitig um einen anderen, dauerhaften Klavierlehrer kümmern werde. Gleichzeitig bat ich sie, dass wir ihre gegenwärtigen Probleme nicht mit dem Klavierunterricht ihrer Tochter in Verbindung bringen sollten. Ich würde also ausschließlich zum Zwecke des Unterrichts in ihrer Wohnung erscheinen, über ihre Ehe-Probleme wolle ich aber nicht weiter sprechen. Wenn sie mit diesen Bedingungen einverstanden sei, könne ich mit dem Unterricht gleich beginnen.
Natürlich war Antonia einverstanden, und sie versuchte es mir zu beweisen, indem sie mir einen kleinen Brief in den Briefkasten warf, in dem sie mein Klavierspiel lobte und in einem Postskriptum versicherte, sie werde in meiner Anwesenheit kein einziges Wort mehr über ihren Mann verlieren. Ich misstraute diesem Pathos, und ich behielt recht: Kaum zwei Tage später klingelte sie bei mir und überraschte mich mit der Einladung, mit ihr eine kleine Portion schwarzen Reis mit etwas Fisch zu verzehren und dazu einen Weißwein aus dem nahe gelegenen Frascati zu trinken.
Konnte ich diese Einladung ablehnen? Nein, ich konnte es nicht, und so erfuhr ich, während ich mich über einen Teller mit schwarzem Reis und sehr feinem, klein geschnittenen Gemüse beugte und dazu Stücke einer gegrillten Seezunge in den Mund schob, dass ihr Mann angeblich in einen Ruderverein eingetreten sei und nun zweimal in der Woche auf dem Tiber mit einer Gruppe anderer Ruderer beim Training gesehen werde …
Als ich einen Tag später dann neben Marietta saß, um ihr meine erste Klavierstunde zu erteilen, geriet ich schon nach wenigen Minuten ins Grübeln. Ich hatte mir zuerst die Noten des Italienischen Konzerts geben lassen und rasch die Fingersätze des ersten Satzes geändert, das aufgeschlossene und auf meinen Unterricht neugierige Kind danach aber gebeten, mit dem langsamen Üben einer bestimmten Eingangspassage zu beginnen.
Ich lehnte mich etwas zurück und hörte Marietta zu, wie sie immer wieder von
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