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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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was er von mir verlangte. Ich sollte Chopin spielen, ausgerechnet Chopin! Ich überlegte mir keine Ausrede, sondern sagte ihm, dass mir die Stücke von Frédéric Chopin nicht gefielen, und als Walter Fornemann nachfragte, warum diese Stücke mir um Himmels willen denn nicht gefielen, antwortete ich, dass diese Stücke keinen Boden hätten. Keinen Boden?!, fragte Walter Fornemann beinahe entsetzt, keinen Boden?!
     
    Heute vermute ich, dass mir vor allem die skurrile Aussage, Chopins Klavierkompositionen besäßen keinen Boden, damals dazu verholfen hat, ein Schüler Walter Fornemanns zu werden. Später einmal hat Fornemann meiner Mutter gegenüber behauptet, er habe in mir ein junges Klaviergenie gewittert, eine Hochbegabung, ein rares Talent!
    Ich jedoch kann mir einfach nicht vorstellen, dass mir das Vorspielen der schlichten Arabeske von Debussy diese günstige Prognose eingebracht hatte. Fornemann hatte weniger auf mein Spiel als auf meine gereizte Bemerkung über Chopin reagiert – das hatte ich doch genau bemerkt! Also hatte er in mir nicht einen jungen Virtuosen gesehen, sondern einen seltsamen, undurchschaubaren Typen mit gewissen originellen Spleens und Ideen, der ihm vielleicht einmal für seine musiktheoretischen Bücher nützlich sein konnte.
     
    Wir haben es damals bei dem Vorspiel eines Debussy-Stücks bewenden lassen, Fornemann erklärte, dass er eine Ausnahme machen und mich ab sofort jede Woche eine Stunde privat und bei sich zu Hause unterrichten werde. Der Unterricht fand dann auch jeden Donnerstagnachmittag statt, Mutter kam von ihrer Arbeit zunächst in unsere Wohnung und brachte mich hin. Wenn ich bei Fornemann geklingelt hatte, erschien eine Haushälterin, führte mich in den Wintergarten, wo der Flügel stand, und brachte mir Tee und etwas Gebäck. Jede Unterrichtsstunde begann auf genau diese Weise, ich wartete ein paar Minuten allein und nippte am Tee, dann erst erschien Fornemann und begann mit seinem Programm.
    Dieses Programm aber war darauf angelegt, die jeweiligen Stücke zunächst nicht zu spielen, sondern sie erst einmal zu verstehen. Um sie zu verstehen, zerlegte man sie in kleine Sinneinheiten und Phrasen und schaute sich an, wie diese Einheiten miteinander verbunden waren. Man übt eine Komposition niemals von vorne nach hinten! , sagte Fornemann und ließ mich die Phrasen einzeln und in völlig unterschiedlicher Reihenfolge üben.
    Eine Komposition wurde so zu einem Mosaik, dessen Bausteine man aus dem Gesamtgefüge herauslöste, um sie dann wie Spielmaterial zu behandeln. Schauen wir uns diese Drei-Takte-Idee einmal genauer an! , schlug Fornemann vor und bat mich, eine bestimmte musikalische Idee in einer anderen Tonart zu spielen, sie auf zwei Takte zu verkürzen oder mit ihr zu improvisieren.
     
    Damit solche Übungen nicht zu naiven Spielereien führten, musste ich möglichst rasch die Grundlagen von Harmonielehre und Kontrapunkt beherrschen. Diese Sache hier geht über G erwartungsgemäß nach D und kehrt dummerweise nach C zurück , zeigte er mir, um mich dann aufzufordern, es ein wenig besser als Mozart in dieser Sonate zu machen und nicht nach C, sondern nach einem verblüffenderen Ton zurückzukehren.
    Was die Klaviersonaten der Klassik betraf, so war Joseph Haydn in Fornemanns Augen der uneinholbare Meister solcher Verblüffungen. Und warum war Haydn das? Weil er ein Meister des kleinteiligen, ironischen, eine Komposition in jedem Moment neu strukturierenden Denkens war! Haydn überrascht den Zuhörer ununterbrochen , sagte Fornemann, Haydns Sonaten sind raffiniert, Mozarts Klaviersonaten sind dagegen Fingerübungen für Mannheimer Wirtshaustöchter, und genau das hört man ihnen auch an!
     
    Zu Beginn meines Unterrichts verstand ich einen Großteil dessen, was er sagte, nicht. Warum Haydn besonders raffiniert, Mozart hier und da breitflächig oder Beethoven manchmal geradezu einfältig komponierte – das konnte ich wegen meines Alters auch noch nicht verstehen. Das Besondere an Fornemanns Unterricht aber war, dass er darauf keine Rücksicht nahm, sondern mich wie einen Erwachsenen behandelte. Diesem Erwachsenen erklärte er in allen Nuancen und Feinheiten, dass eine Komposition nichts Fertiges und Geschlossenes war, das man stumm bewunderte, übte und dann irgendwann vortrug, sondern etwas, mit dem man beinahe unbegrenzt spielen konnte. Eine Haydn-Sonate wurde so zu einer Erzählung, die man sich in Bruchstücken immer wieder anders erzählte, mit Bruchstücken

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