Die Erfindung des Lebens: Roman
Grundsatz gewesen, mein Leben lang, seit ich als Kind begonnen hatte, das Klavierspiel zu lernen …, aber lassen wir das.
Ich setzte mich also an den Flügel und begann zu spielen, doch schon nach wenigen Minuten wurde ich unterbrochen. Bravo, sagte der Vorsitzende, bravissimo, es reicht bereits, Sie spielen erstaunlich! Er fragte mich nach meinen Lehrern, und ich erzählte von Walter Fornemann, den er glücklicherweise kannte. Das Mussorgskij-Buch von Walter Fornemann ist gerade im Italienischen erschienen, sagte er. Ich nickte und lächelte verkrampft, denn ich hatte das Mussorgskij-Buch von Walter Fornemann natürlich noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Als Reizwort und Signal aber passte »Mussorgskij« geradezu ideal, denn eine Komposition von Mussorgskij war zufällig die zweite, die ich spielen wollte.
Der Vorsitzende wirkte beinahe betört, als ich das sagte und er sich an die Runde der anderen Juroren wenden konnte: Unser junger Freund spielt jetzt noch etwas von Mussorgskij, aus den »Bildern einer Ausstellung«. Ich legte wieder los, und wieder unterbrach er mich nach wenigen Minuten. Es ist gut, sagte er, Sie brauchen nicht weiterzuspielen. Wir nehmen Sie auf, ich brauche meine verehrten Kollegen gar nicht weiter zu fragen, ob sie einverstanden sind, wir nehmen Sie auf.
Ich dankte ihm und verbeugte mich. Da sagte er noch: Was ist das für ein Totengräber-Anzug, den Sie da tragen? Ich antwortete, es sei der Anzug eines Portiere. Da aber begannen alle zu lachen, der ganze Kreis der Juroren lachte plötzlich, und auch ich musste lachen. Machen Sie sich einen schönen Tag, junger Freund, sagte der Vorsitzende, reckte sich dann aber noch einmal vor: Einen Moment noch, ziehen Sie Ihre Anzugjacke aus, legen Sie die Jacke zur Seite und geben Sie noch eine Zugabe, spielen Sie zum Abschluss noch ein Etude von Chopin.
In dem Augenblick, als er das sagte, drohte noch einmal alles zu kippen. Ich spürte es genau, ich hatte plötzlich ein mulmiges, dumpfes Gefühl: Jetzt kippt doch noch alles, dachte ich, jetzt wird Dir Chopin zum Verhängnis. – Aber wieso denn?, fragte Antonia, warum hätte Dir ausgerechnet Chopin zum Verhängnis werden können? – Weil ich seit der Kindheit ausgerechnet mit Chopin nicht zurechtkam, antwortete ich, weil … Chopin und ich keine gute Verbindung ergaben. – Und wie hast Du das Problem dann gelöst? – Indem ich darum bat, etwas anderes spielen zu dürfen, ja, ich bat darum, ein Stück aus dem Zweiten Teil der »Années de pelèrinage« von Franz Liszt spielen zu dürfen. Ecco!, sagte der Vorsitzende, sehr erstaunt, ja, genau, ich glaube ihn noch zu hören, wie er dieses Ecco! sagt und mich dann fragt, ob ich ein Stück aus dem Zweiten Teil der »Années de Pelèrinage« spielen wolle, weil dieser Zweite Teil von Liszts Komposition eine Hommage an Italien sei. Genau deshalb möchte ich dieses Stück spielen, antwortete ich. Also ebenfalls als eine Hommage an Italien?, fragte der Vorsitzende, und ich antwortete, als eine Annäherung an Italien …
Danach gab er auf und sagte nichts mehr, er erhob sich, kam hinüber zu meinem Flügel und stellte sich neben mich. Er legte mir die Hand auf die rechte Schulter und sagte zu seinen Kollegen: Unser junger deutscher Freund spielt uns zuliebe jetzt einen Teil aus den Italien-Partien der »Années de pelèrinage«. Es war ein feierlicher, großer Moment, denn nachdem er das gesagt hatte, stand plötzlich die gesamte Jury auf, als hätte ich angekündigt, die italienische Nationalhymne zu spielen.
Vorsichtshalber behielt ich die Anzugjacke an, setzte mich wieder und spielte fast eine halbe Stunde aus den »Années de pelèrinage«. Danach gab es großen Beifall, und jeder der Juroren reichte mir die Hand. Ich war aufgenommen, ich hatte es geschafft.
- Und wie war es danach? Was passierte in den Minuten danach? – Ich verließ den Konzertsaal, ging eine breite Treppe hinab und stand dann einen Moment allein im Treppenhaus des Conservatorio. Mir war etwas schwindlig, ich klammerte mich an das Geländer und schaute durch die ovalen Fensterluken nach draußen. Dort draußen war aber nichts als eine Flucht ziehender Wolken zu sehen, es waren leicht gelblich getönte Wolken vor einem matten, hellblauen Grund. Als ich diese eilig ziehenden Wolken sah, dachte ich plötzlich, dass sie so etwas wie mein Glück und mein Leben symbolisierten, ja, ich brachte diese Wolken wirklich mit meinem Leben in Verbindung. Ich hatte das
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