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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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wahrhaftig keine Angst mehr, und ich wollte nicht, dass wieder von Angst die Rede war, ich hatte keine Angst mehr zu sprechen und erst recht hatte ich keine Angst, von einem Felsen ins tiefe Wasser zu springen.
    Weil ich mir in dieser Sache sehr sicher war, folgte ich dem älteren Bub, den ich sonst gar nicht kannte, vielleicht wusste er nicht, mit was für einer ehemals furchtsamen Kreatur er es zu tun hatte, ja vielleicht wusste er überhaupt nicht, wer ich war – umso besser, dann würde er mich auch nicht laufend beobachten, wenn ich mit ihm den Felsen hinaufkletterte.
    Wir schwammen hintereinander zu der dunklen Stelle des Flusses, wir klammerten uns an dem Felsen fest und zogen uns hoch, bis wir Boden unter den Füssen hatten, dann kletterten wir den Felsen hinauf, ich hinterher, mit gesenktem Kopf, mich mit beiden Händen absichernd.
     
    Oben angekommen, schaute ich hinunter. Ich erkannte die nahe Gastwirtschaft, die lang gezogenen Hügel am Horizont, das Wäldchen, die Wiesen mit den verstreut herumstehenden Gruppen von Kühen – all das war aus dieser Höhe gut zu überblicken und machte einen friedlichen, ruhigen Eindruck. Wenn ich jedoch direkt nach unten, in die Tiefe, schaute, bekam ich es nun doch mit der berüchtigten Angst zu tun. Wie weit das Wasser entfernt war, wie unglaublich weit! Wie dunkel und abstoßend es wirkte, als wollte es einen hinabziehen und nicht mehr freigeben! War es schon einmal vorgekommen, dass einer der Springer in der Tiefe geblieben war, konnte so etwas geschehen, konnte es vielleicht passieren, dass man sich in der Tiefe in irgendwelchen Algenwäldern verfing und dann nicht mehr auftauchte?
     
    Wir standen zu zweit hoch oben auf dem Plateau, und mein Begleiter schaute mich an: Du hast doch Angst! Du bist noch nie hier runtergesprungen, habe ich recht? Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, ich wollte nicht zugeben, noch nie gesprungen zu sein, denn ich war schließlich genau so groß und wohl auch genau so kräftig wie mein Gegenüber, der anscheinend schon viele Male den Sprung gewagt hatte. Gab es einen Satz mit Angst , den ich hätte sagen können? Fast hätte ich in der Eile Die Angst ist tief gesagt, dann aber fiel mir gerade noch eine andere Formulierung ein: Der Fluss ist tief.
    Der Junge, der neben mir stand, nahm diesen hilflosen, ja törichten Satz aber anscheinend ernst, er beugte sich jedenfalls etwas vor, schaute herunter und antwortete: Fünf Meter! Der Fluss soll hier über fünf Meter tief sein, aber nur an dieser Stelle, nur hier! Er blickte kurz noch einmal zur Seite und schaute mich fragend an, ob sein Satz bei mir angekommen war und mich beeindruckt hatte, dann aber wurde es ihm zu viel. Einen Schritt trat er noch zurück, dann nahm er einen kleinen Anlauf, und ich sah ihn in die Tiefe fliegen, wo er im Wasser verschwand, bald aber wieder auftauchte und mir zuwinkte, als wäre der Sprung ein großer Spaß gewesen.
     
    Nun war also ich dran, aber ich zögerte noch, verdammt, jetzt hatte ich wirklich wieder Angst , jetzt hatte mich dieses lähmende, erstickende Gefühl wieder gepackt, so dass ich mich nicht rühren konnte, sondern, wie früher als kleines Kind, auf der Stelle erstarrte. Hätte es hier oben bloß ein Versteck gegeben, in das ich mich hätte zurückziehen können! Sollte ich einfach wieder hinabsteigen oder was zum Teufel sollte ich tun?
    Ich blickte noch einmal Hilfe und Rat suchend in die Ferne, als ich meine Mutter bemerkte, die vom Wäldchen aus näherkam und über die Wiese auf den Fluss zulief. Sie hatte mich anscheinend oben auf dem Felsen erkannt, denn sie winkte energisch, um mir zu bedeuten, auf keinen Fall in den Fluss zu springen. Ihr Laufen, ihre Unruhe, ihr dramatisches Abwinken – ich schaute mir das nicht gerne an, zumal es mich an viele Szenen in meiner Kindheit erinnerte, in denen sie mich immer wieder davon abgebracht hatte, einmal irgendetwas zu wagen.
    Warum mischte sie sich wieder ein? Warum überließ sie nicht mir die Entscheidung und brachte mich jetzt wieder wie früher so durcheinander, dass ich am Ende gar nicht mehr wusste, was ich tun sollte?
    Sie rannte auf den Fluss zu und blieb dann an seinem Ufer, direkt gegenüber dem Felsen, stehen, immer wieder signalisierte sie etwas mit beiden Armen, sie wollte mir anscheinend unbedingt verbieten, von der Höhe zu springen, am Ende war sie vor lauter Erregung beinahe außer sich.
     
    Ich formte meine beiden Hände zu einem Trichter und rief ihr von der Höhe

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