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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Klavierlehrern und am Ende sogar von einigen großen Pianisten unterrichtet worden. Ich kannte mich also mit diesem Sesselplatz aus, ich wusste, wie und wann ein guter Lehrer von diesem Sessel aus am besten in die Übungen seiner Schüler eingreift, ich wusste es ganz genau, und es reizte mich schon in dem Augenblick, in dem ich Platz nahm, genau das zu tun.
    Ich schlug jedoch ein Bein übers andere und lehnte mich zurück, Marietta spielte immerhin so konzentriert, dass sie auf mein Erscheinen nichts gab, sie spielte weiter und weiter, aber ich sah auf den ersten Blick, dass sie an vielen Stellen einen völlig falschen, ja geradezu abwegigen Fingersatz benutzte. Wer hatte ihr diesen Fingersatz beigebracht, wer war der Idiot? Ein Kenner oder ein halbwegs erfahrener Klavierspieler konnte es nicht sein, dafür war alles zu chaotisch und unüberlegt.
    Es reizte mich immer mehr, sofort einzugreifen, aber ich riss mich zusammen, zunächst wollte ich abwarten, bis der Campari serviert wurde. Ich versuchte, nicht auf die Tasten zu schauen, und blickte mich stattdessen etwas im Zimmer um, das in der Tat noch ein richtiges Kinderzimmer war, mit einigen Bildern einer mir unbekannten britischen Pop-Band an der Wand. Wie brachte so jemand wie Marietta das zusammen, die Stücke dieser Band, die sie doch wahrscheinlich sehr mochte, und den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach?
    Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie gegen ihren Willen übte, nein, es sah nicht so aus, sie hatte anscheinend durchaus Freude daran, diesen Satz zu spielen, und sie spielte ja auch gar nicht schlecht, wenn auch noch viel zu gehemmt.
    Als Antonia mit zwei Gläsern Campari und einem Glas Orangensaft erschien, hörte Marietta sofort auf zu spielen und drehte sich nach mir um. Sie war nicht erstaunt, mich zu sehen, nein, sie lächelte, es kam mir beinahe so vor, als freute sie sich über mein Erscheinen. Ich nickte, ich klatschte betont theatralisch, Marietta lachte jetzt sogar so, als wäre der freundliche, gerade aus dem Nichts erschienene Herr sehr willkommen.
    Wir stießen mit unseren Gläsern an, wir nahmen einen Schluck, dann aber erklärte Antonia ihrer Tochter, dass auch ich einmal Klavier gespielt habe, das stimmt doch?, das habe ich doch richtig in Erinnerung? , fragte sie. Sie hätte so etwas nicht fragen, sie hätte meine sowieso bereits bestehende starke Anziehung durch das einen Meter vor mir stehende Klavier nicht verstärken sollen, ich antwortete jedenfalls nicht, sondern nickte nur und fragte Marietta dann sofort, wer für den Fingersatz verantwortlich sei, den sie eben benutzt habe.
    Marietta begriff nicht, was?, was wollte ich wissen?, es ging um die Fingersätze?, waren Fingersätze denn wichtig? Sie fragte so naiv und so drollig, dass Antonia lachen musste, dann aber lachten die beiden zusammen, als hätten sie sich nie einen Gedanken über Fingersätze gemacht und als hätte ich gerade eine besonders unsinnige Frage gestellt.
    Das Lachen der beiden reizte mich ein wenig und forderte mich gleichzeitig heraus, dochdoch, sagte ich, Fingersätze sind sehr wichtig, es gibt Menschen auf der Welt, die machen sich überhaupt nur darüber Gedanken! Marietta staunte: Wirklich? Und ich machte gerade keinen Spaß, sondern es gab wirklich Menschen, die sich nur über Fingersätze Gedanken machten? Aber nein, das war ja unmöglich, aber nein, ich machte ja nur einen Scherz!
     
    Ich saß nicht kaum einen Meter vor einem halbwegs gestimmten Klavier, um mir nach beinahe zwei Jahrzehnten eines pianistischen Studiums sagen zu lassen, dass ich bloß einen Scherz machte, wenn ich über Fingersätze sprach. Marietta, darf ich Dir mal etwas zeigen?, fragte ich leise und war regelrecht erleichtert, als sie sofort ihren Platz räumte. Wir tauschten die Plätze, ich saß jetzt an einem römischen, halbwegs gestimmten Klavier, es war zu seltsam, wie war ich eigentlich hierher geraten?, ganz offensichtlich war ich doch einzig und allein diesen Klavierklängen gefolgt und hatte mir auf raffinierte Art Zugang zu dieser Wohnung und ihren Bewohnern verschafft, die mich im Augenblick vor allem deshalb interessierten, weil sie ein spielbares Klavier besaßen.
     
    Schau mal, Marietta, hier diese Stelle …, sagte ich, an dieser Stelle bleibst Du immer wieder hängen, weil Du einen falschen Fingersatz verwendest. Ich spielte die Passage betont langsam, Note für Note, damit man genau beobachten konnte, welche Finger ich benutzte. Als ich

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