Die Erfindung des Lebens: Roman
aus zu: Der Fluss ist hier tief , aber sie schüttelte nur abwehrend den Kopf, als stimmte nicht, was ich sagte. Der Fluss ist sehr tief , rief ich weiter, sie aber wollte das nicht hören und geriet derart in Panik, dass ich kaum noch hinschauen konnte.
Ich spürte genau, dass es für mich jetzt darauf ankam, bei meinem Vorhaben zu bleiben: Ich musste springen, ganz unbedingt, die alten Zeiten, in denen Mutter mir immer wieder gesagt hatte, was ich tun durfte und was nicht, waren endgültig vorbei.
Deshalb trat ich, wie ich es bei meinem Vorgänger gesehen hatte, einen kleinen Schritt zurück, um für den Anlauf auszuholen … – als ich Mutter vom gegenüberliegenden Ufer her schreien hörte: Johannes, Du springst nicht! Spring nicht! Tu das Deiner Mutter nicht an!
Es war, als habe sie die stärkste und letzte Waffe eingesetzt, um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Ich dachte aber in diesem Moment keinen Augenblick darüber nach, dass ich meine Mutter gerade zum ersten Mal einige zusammenhängende Sätze hatte rufen hören, nein, ich kam gar nicht dazu, darüber lange nachzudenken, sondern ich folgte dem starken inneren Impuls, den ich gerade noch gespürt hatte, lief an und sprang von der Höhe hinab ins Wasser.
Was für ein wunderbarer Moment! Das Eintauchen in die Kälte, das Verschwinden in der Tiefe, die plötzliche Erleichterung darüber, dass nicht das Geringste passiert war, das Vergnügen an der momentanen Entfernung von Licht, Luft und Sonne, die sekundenlange Zugehörigkeit zu den Bewohnern des Wasserreichs, das langsame, verzögerte Auftauchen und, am schönsten: das stolze Herausstrecken des Kopfes aus dem Wasser, wie nach einer zweiten Geburt! …
Kaum eine Stunde später ist mir auf der Toilette der Gastwirtschaft schlecht geworden. Ich saß draußen an meinem Gartentisch und notierte meine Tages-Lektion, als ich eine plötzliche Schwäche und einen heftigen Schwindel spürte. Ich sagte niemandem etwas davon, aber als ich mich auf der Toilette befand, wusste ich, dass die Angst mich nun doch noch einmal gepackt hatte. Verdammt! Ich hatte sie längst besiegt, und nun rächte sie sich und verfolgte mich noch ein letztes Mal!
Wahrhaftig, ja, es stimmt, es war ein letztes Mal, denn seit diesem Abend habe ich nie wieder Angst gehabt, vor nichts und vor niemandem mehr. Später hat mir diese Angstfreiheit sehr geholfen, denn sie war wohl auch mit ein Grund dafür, dass meine Verlegenheit oder Scheu gegenüber anderen Menschen verschwand. So konnte ich zum Beispiel bereits wenige Monate nach diesem Ereignis die anderen Klavierspieler nicht verstehen, die mir vor einem gemeinsamen Klaviervorspiel in der Schule zuflüsterten, dass sie große Angst hätten oder sogar vor Angst vergingen. Nein, ich verging nicht vor Angst, und es war sogar noch viel besser: In angespannten Situationen, in denen es auf viel ankam, war ich besonders ruhig und konzentriert, als begleiteten mich die Schreie meiner Mutter gerade in solchen Augenblicken.
Andern mag so etwas seltsam vorkommen, aber ich hatte wahrhaftig in bestimmten, wichtigen Augenblicken meines Lebens das sonderbare Gefühl, von diesen Schreien meiner Mutter mit gesteuert zu werden. Diese Schreie, die ich nie aus dem Ohr bekommen habe und die mich seither begleiten, hatten auf mich nämlich nicht die erhoffte abschreckende Wirkung, sondern sie immunisierten mich vielmehr gegen die Angst, ja sie sorgten dafür, dass ich mich von der Außenwelt vollkommen zurückzog und mich ganz auf mich selbst konzentrierte.
Man muss es sich in etwa so vorstellen, dass mir in genau dem Moment, in dem meine Mutter zu schreien begann, eine Art Panzer wuchs. Dieser Panzer wehrte alle Attacken und Zugriffe auf meinen Körper ab und sorgte dafür, dass dieser Körper nur noch seinen eigenen, von außen nicht mehr zu beeinflussenden Regungen folgte. Vielleicht kennen Hochleistungssportler, die ja ebenfalls in bestimmten Momenten aufs Äußerste konzentriert sein und sich von niemandem ablenken lassen dürfen, dieses Gefühl, ich weiß es nicht, ich weiß aber, dass mich später vor vielen Auftritten am Klavier und später am Flügel eine Art Engelsruhe befiel, die mir jede Art von Aufregung oder sogar Angst ersparte.
Vielleicht waren diese Ruhe und diese Trance, die ich auch nach meinem Sprung noch eine Zeit lang empfand, letztlich der Grund dafür, dass ich auf die ersten Worte meiner Mutter überhaupt nicht reagierte. Ich ging ans Ufer und
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