Die Erfuellung
hatte er aufgehoben? Sie beugte sich tief über den Draht, um sich den Grashang genau anzusehen, entdeckte aber nur ein zerknülltes Stück Papier. Das einzig Auffällige daran war, dass es in einem kleinen Loch hinter einer Weißdornwurzel klemmte. Wenn sie sich flach auf den Bauch legte und den Arm unter dem Draht hindurchschob, konnte sie es gerade noch erreichen. Als sie ihre Hand zurückzog, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass es sich um einen Fünf-Pfund-Schein handelte. Ihr Blick wanderte in die Richtung, die der Reiter eingeschlagen hatte. Fünf-Pfund-Scheine steckten nicht zufällig in Erdlöchern. Sie überlegte fieberhaft. Wenn sie sich nicht irrte, würde dieses Geld abends gegen Viertel nach fünf abgeholt werden. Aber nein, so hinterhältig konnte Sep Watson nicht sein, dass er für die Cadwells gegen eine Familie arbeitete, in deren Diensten er fast sein ganzes Leben lang gestanden hatte. Aber ihr Instinkt sagte ihr, dass das sehr wohl möglich war. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie Ralph Batley ihn gefragt hatte, woher er wusste, dass die Schafe ausgebrochen waren. Seine Antwort hatte sie schon damals nicht recht überzeugt, aber sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht.
An einen gemütlichen Spaziergang zurück war nicht mehr zu denken. Sie rannte los und hielt erst an, als die Gebäude der Farm in Sicht kamen und sie eine stämmige Gestalt im Durchgang in der hohen Ziegelmauer entdeckte. Obwohl sie das Gesicht nicht erkennen konnte, war ihr klar, dass es sich um Sep Watson handeln musste. Unmöglich zu sagen, wie lange er sie schon beobachtete, denn von seinem Standort aus konnte er die Hügel jenseits des Tales sehen. Sie versuchte, sich einzureden, dass er aus ihrer Eile keine Schlüsse ziehen konnte, aber der Mann war gewieft, vielleicht nicht intelligent, aber wachsam wie ein Fuchs. Dem entging nichts. Sie wandte sich nicht zum Durchgang, sondern schlenderte scheinbar lässig zum Vordereingang, wo sie zu ihrer Erleichterung den Jeep im Hof entdeckte. Ralph Batley, der die Milch nach Surfpoint Bay gebracht hatte, war also zurück. Draußen war nichts von ihm zu sehen, aber als sie durch den Hof zur Küche ging, hörte sie seine Stimme und Michaels hohes Lachen.
Als sie die Küchentür öffnete, stürmte Michael auf sie zu. »Da bist du ja! Onkel Ralph wollte schon einen Suchtrupp losschicken, weil es bald dunkel wird.«
Ralph Batley, der mit dem Rücken zu ihr stand, äußerte sich nicht dazu, sondern goss ungerührt kochendes Wasser in die Teekanne, als wäre sie gar nicht da.
»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Er wandte sich rasch um. Sein Gesicht war so entspannt, dass er fast zufrieden wirkte. War er das wirklich?
»Geh und hol Onkel Shane, der muss in der Scheune sein«, sagte er zu dem Jungen.
Michael zögerte einen Augenblick. Sein Wunsch, bei Linda zu bleiben, verlieh ihm Mut. »Aber Onkel Shane ist doch gerade ausgegangen«, protestierte er.
Linda warf sich in die Bresche, um dem Jungen eine scharfe Zurechtweisung zu ersparen. »Lass mich nur einen Augenblick allein mit deinem Onkel reden, sei so lieb.« Sie öffnete die Tür und schob ihn hinaus. Als sie diese wieder geschlossen hatte, wandte sie sich ihrem Arbeitgeber zu, der auf der anderen Seite des Tisches stand und wartete, was sie ihm zu sagen hatte.
»Ich habe etwas Merkwürdiges gesehen«, sprudelte sie ohne Einleitung heraus. »In der Nähe der Stelle, wo damals der Draht durchgeschnitten war, sodass die Schafe ausbrechen konnten.« Sie legte eine Pause ein und senkte für einen Moment den Blick, bevor sie fortfuhr. »Mr Cadwell ritt dort vorbei und hielt an der Böschung. Das weckte meine Neugier. Er beugte sich vor, als würde er etwas aufheben. Als er fort war, sah ich mir die Böschung genauer an. In einem Loch steckte etwas, das ich zunächst für Papier hielt, aber es war ein Fünf-Pfund-Schein.«
Ralph Batley schien durch sie hindurchzusehen. Sie schloss für einen Moment die Augen. Zu sehr erinnerte seine veränderte Miene sie an den Mann, der damals bereit gewesen war, dem älteren Cadwell an die Gurgel zu gehen. Sie sah, wie er mühsam schluckte.
»Sind Sie sicher?«, fragte er.
»Sicher? Natürlich. Ich hatte den Schein in der Hand.«
»Aber was haben Sie damit getan?«
»Ihn zurückgelegt. Ich denke …« Sie wandte den Kopf ab. Sie wusste, dass ihr Arbeitgeber nicht viel von seinem Melker hielt, aber was, wenn sie sich irrte?
»Was denken Sie?« Seine Stimme klang hart.
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