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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thymian Bussemer
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Wirtschaft und Gesellschaft notgedrungen an, sie funktionieren |134| auch unter radikal veränderten Bedingungen. Doch etwas geht ihnen dabei verloren. Je schneller sich die Verhältnisse verändern, desto mehr wächst deshalb zugleich das Bedürfnis nach Rast, das Verlangen nach Ruhe, kurz: die Sehnsucht nach Heimat. So unbestreitbar es ist, daß sich die Gesellschaft weiterhin dramatisch wandeln wird, so bedeutsam bleiben doch die tiefsitzenden Prägungen der Vergangenheit. Nur vordergründig überdeckt durch die so viel dröhnender daherkommende Parallelwirklichkeit der Medien, bleiben die traditionalen Prägungen auch weiterhin wirksam. Das zentrale Kennzeichen der deutschen Gesellschaft ist deshalb weder völlige Rückwärtigkeit noch überbordender Aufbruch. Was sie ausmacht, ist gerade das Nebeneinander von beschleunigtem Wandel und vielfältigen Überhängen älterer Verhältnisse.« 99 Und weil dies so ist, muss man sehr genau prüfen, welche Modernisierungsschocks einer Gesellschaft zumutbar sind. Vieles spricht dafür, dass die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahren überfordert wurde. »Der öffentliche Diskurs der letzten zehn Jahre«, urteilt Tissy Bruns, »war viel mehr von den globalen Chancen der Wirtschaft und dem Anpassungszwang für die Sozialsysteme bestimmt als von den ambivalenten Alltagserfahrungen der Menschen im Land.« 100
    Generationswechsel
    Diese politisch-mediale Überformung der Lebenswelt der Menschen und die daraus resultierenden Beziehungsstörungen im Verhältnis von Bürgern, Politik und Medien haben auch etwas mit Veränderungen der journalistischen Kultur zu tun, die durch einem Generationswechsel beim tonangebenden Medienpersonal bedingt waren. Die räumliche Verlagerung der |135| Korrespondentenbüros von Bonn nach Berlin wirkte hier zusätzlich als Katalysator. Viele langjährige Korrespondenten – etwa 80 Prozent, schätzt Günter Bannas von der
F.A.Z.
– machten den Umzug in die neue Hauptstadt nicht mit. Das hatte zur Folge, dass es in Berlin auch große Korrespondentenbüros gab, »in denen kaum noch jemand dabei ist, der schon aus Bonn berichtet hatte«. 101 So gerieten die ersten Monate in Berlin zu einem
restart
im lange eingespielten Verhältnis von Bundespolitik und Hauptstadtmedien. Improvisation prägte die Situation und brachte neue Gepflogenheiten hervor. »Es fehlten in diesen Monaten die gewachsenen Zentren des Meinungsaustausches«, erinnert sich Peter Struck. »Das Kanzleramt war noch nicht fertiggestellt, die Abgeordnetenhäuser noch im Werden und das Haus der Bundespressekonferenz – in Bonn ein unverzichtbarer Bestandteil der Meinungsmache – war erst im Bau. Je dezentraler die Journalistenbüros lagen, desto größer war die Angst, Nachrichten zu verpassen, und desto größer wiederum die Bereitschaft, wilde Gerüchte als gesicherte Nachrichten zu verkaufen. Umgekehrt schürten wir Politiker dieses News-Gebrodel, weil wir auf keinen Fall den Eindruck zulassen wollten, uninformiert zu sein.« 102
    Der Hauptstadtumzug und die zunächst sehr provisorischen Verhältnisse in der neuen Hauptstadt beschleunigten so einen Generationswechsel im deutschen Journalismus, der sich bereits zuvor angekündigt hatte. Die Garde der alten Großpublizisten trat um die Jahrtausendwende endgültig ab. Gerd Bucerius starb 1995, Henri Nannen 1996, Johannes Gross 1999, Rudolf Augstein und Marion Gräfin Dönhoff 2002. Damit gingen auch die großen Themen und Anliegen der deutschen Nachkriegspublizistik verloren. Der bereits 1985 verstorbene Axel Springer stand für die deutsche Einheit und die Aussöhnung mit Israel, Rudolf Augstein für die Pressefreiheit, Marion Dönhoff und |136| Henri Nannen für Willy Brandts Ostpolitik. Viele weitere Journalisten wie Jürgen Leinemann, Hajo Friedrichs, Franz Alt oder Herbert Riehl-Heyse, die die deutsche Publizistik jahrzehntelang beeinflusst hatten, sind in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends aus dem Berufsleben ausgeschieden oder verstorben. Und die von der sozialliberalen Epoche geprägten Publizisten wie Manfred Bissinger, Gunter Hofmann und Michael Naumann durchlaufen zur Zeit ihre letzten Berufsjahre.
    Ihren Platz nahm nach und nach eine neue Generation von Medienmachern ein, die in der Kohl-Ära politisch sozialisiert worden war und heute den deutschen Journalismus dominiert. Ihr gehören Mathias Döpfner, Giovanni di Lorenzo, Christoph Keese, Claus Strunz, Kai Diekmann, Peter Hahne, Roger Köppel, Gabor Steingart

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