Die Erscheinung
danach fuhr er weiter. Noch wusste er nicht, wohin er fahren würde. Einfach nach Norden. Connecticut, dann Massachusetts, vielleicht Vermont. Vermutlich war Vermont genau der richtige Ort für die Weihnachtstage. Dort konnte er Ski laufen, und alle Leute würden in fröhlicher Stimmung sein. Vorerst musste er nur geradeaus fahren, auf die Straße schauen und das Wetter beobachten. Er würde nicht über die Schulter spähen. Hinter ihm gab es nichts, was ihn zurückhielt - nichts, was er mitnehmen wollte.
Leise sang er vor sich hin, als er die Stadt verließ, lächelte und blickte vorwärts. Jetzt hatte er keine Vergangenheit mehr. Nur die Zukunft.
3
Als Charlie über die Triborough Bridge und weiter zum Hutchinson River Parkway fuhr, begann es zu schneien. Das störte ihn nicht. Im Gegenteil, die weihnachtliche Atmosphäre gefiel ihm. Bald geriet er in festliche Stimmung und begann, Weihnachtslieder zu summen. Für einen Mann, der seinen Job verloren hatte, war er erstaunlich gut gelaunt. Dass er nach sechs Monaten zu Whittaker & Jones zurückkehren würde, erschien ihm mehr als zweifelhaft. Jetzt würde er erst einmal reisen und womöglich sogar malen. Für so etwas hatte er seit einer Ewigkeit keine Zeit mehr gefunden. Vielleicht würde er Architektur unterrichten, wenn sich eine Gelegenheit bot. Außerdem wollte er die mittelalterlichen Schlösser in Europa besuchen, die ihn seit seinem Studium faszinierten. Aber zunächst würde er in Vermont Ski fahren und sich dann ein Apartment in London suchen. Plötzlich konnte er ohne Groll und Trauer an die letzten Monate denken. Er hatte eine Entscheidung getroffen, und er würde tun, was ihm gefiel.
An den Straßenrändern bildeten sich allmählich Schneewehen. Nach einer dreistündigen Fahrt hielt er in Simsbury. Dort entdeckte er eine gemütliche kleine Frühstückspension, die einem netten Ehepaar gehörte. Die beiden führten ihn in ihr schönstes Zimmer, und er atmete wieder einmal erleichtert auf, weil er das deprimierende Studio-Apartment nicht mehr bewohnen musste. Sein ganzer Aufenthalt in New York war ziemlich unangenehm gewesen. Zum Glück hatte er diese tristen Wochen hinter sich.
»Besuchen Sie Weihnachten Ihre Familie?«, erkundigte sich die rundliche Frau mit dem blond gefärbten Haar, die ihm das Zimmer zeigte und ungekünstelte Warmherzigkeit ausstrahlte.
»Nein, ich möchte in Vermont Ski fahren.«
Lächelnd nickte sie und erwähnte die zwei besten Restaurants der Stadt, beide eine halbe Meile entfernt. Als sie fragte, ob sie ihm einen Platz fürs Dinner reservieren lassen sollte, zögerte er. Dann schüttelte er den Kopf und kniete vor dem Kamin nieder, um mit dem Anzündholz, das die Wirtin bereitgelegt hatte, Feuer zu machen. »Nein, danke, ich hole mir irgendwo ein Sandwich.« Er hasste es, allein in schöne Restaurants zu gehen, und verstand nicht, warum manche Leute Freude daran fanden. Wenn man eine halbe Flasche Wein trank und ein dickes Steak aß, ohne mit jemandem zu reden, fühlte man sich schrecklich einsam.
»Essen Sie doch mit uns«, schlug die freundliche Frau vor und musterte ihn neugierig. Er sah gut aus, mochte Anfang dreißig sein, und sie fragte sich, warum er allein verreiste. Eigentlich müsste ein so attraktiver Mann verheiratet sein. Aber er trug keinen Ehering … Vielleicht ist er geschieden, überlegte sie und bedauerte, dass ihre Tochter noch nicht von New York nach Hause gekommen war. Ohne zu ahnen, was sie mit ihm vorhatte, lehnte er das Angebot dankend ab und schloss die Tür hinter sich. Meistens bemerkte er gar nicht, wie sehr er das weibliche Geschlecht interessierte. An so etwas dachte er schon jahrelang nicht mehr. Seit der Trennung von Carole hatte er sich kein einziges Mal mit einer Frau verabredet, zu sehr mit seiner Verzweiflung beschäftigt. Aber nachdem er so unerwartet von allen Pflichten in seinem Leben befreit worden war, fühlte er sich besser.
Am späteren Abend fuhr er weg, um einen Hamburger zu essen. Verwundert stellte er fest, wie hoch der Schnee lag -etwa anderthalb Meter zu beiden Seiten der sorgsam frei geschaufelten Zufahrt. Während er den Wagen vorsichtig auf die Straße lenkte, lächelte er. Jetzt schneite es nicht mehr. Was für eine schöne klare Winternacht … Dieses Erlebnis hätte er gern mit jemandem geteilt. Es war sonderbar, die ganze Zeit allein zu sein, mit niemandem zu reden. An dieses drückende Schweigen würde er sich wohl nie gewöhnen.
Aber seinen Hamburger musste er
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