Die Erscheinung
Kindheit hatte er sie mit seinen Eltern besucht. Fasziniert hatte er die dreihundert Jahre alten gut erhaltenen Häuser betrachtet. Schon damals hatte er sich für schöne Architektur interessiert. Beim Anblick der überdachten Brücken erinnerte er sich an den nahen Wasserfall. Wenn er im Sommer in diese Stadt käme, würde er aussteigen, spazieren gehen, eventuell sogar schwimmen. In New England war er aufgewachsen, hier fühlte er sich heimisch. Und plötzlich erkannte er, warum er diese Strecke gewählt hatte - um in einer vertrauten Atmosphäre zu genesen. Vielleicht war es an der Zeit, die Trauer zu beenden und einen neuen Anfang zu wagen. Vor sechs Monaten hätte er sich das nicht vorstellen können. Aber nun glaubte er, diese schöne Umgebung würde seine Seele heilen.
Als er an Deerfield vorbeifuhr, erinnerte er sich an seinen Vater, der ihm wundervolle Geschichten über die Indianer in Mohawk Trail erzählt hatte, die Irokesen und die Algonkin. Charlies Vater, Geschichtsprofessor in Harvard, hatte mit seinem Sohn sehr oft Ausflüge in historisch bedeutsame Gebiete unternommen. Nun wünschte Charlie, der geliebte Vater würde noch leben, und er könnte ihm von Carole erzählen. Aber so düsteren Gedanken durfte er nicht nachhängen. Im immer dichteren Schneetreiben musste er sich auf die Straße konzentrieren. Vor einer halben Stunde hatte er Deerfield verlassen und seither nur zehn Meilen zurückgelegt.
Ein Schild wies auf eine kleine Stadt hin - Shelburne Falls, nahe dem Deerfield River, an einem Hang gelegen. Im heftigen Flockenwirbel konnte Charlie kaum noch etwas sehen und gab seinen Plan auf, noch näher an Vermont heranzufahren. Möglicherweise würde er hier eine Pension oder ein Hotel finden. Ringsum sah er gepflegte kleine Häuser. Wohin sollte er sich wenden?
Schließlich trat er auf die Bremse und kurbelte das Fenster herab. Zur Linken entdeckte er eine Seitenstraße. Langsam und vorsichtig bog er ab und fürchtete, im frisch gefallenen Schnee würde das Auto ins Schleudern geraten. Aber die Winterreifen griffen einwandfrei, und er folgte der Straße, die parallel zum Deerfield River verlief. Als er schon glaubte, er würde im Nirgendwo landen, und umkehren wollte, entdeckte er ein hübsches Haus mit Schindeldach und Wandelgang. An einem weißen Pfahlzaun hing ein Schild -FRÜHSTÜCKSPENSION GLADYS PALMER. Genau das Richtige. Behutsam steuerte er den Kombi in die Zufahrt.
Neben der Tür hing ein Postkasten, der einem Vogelhäuschen glich. Als Charlie aus dem Wagen stieg, lief eine große Irish-Setter-Hündin durch den Schnee auf ihn zu und wedelte mit dem Schwanz. Er bückte sich und streichelte sie. Dann stieg er die Eingangsstufen hinauf. Den Kopf gesenkt, um seine Augen vor den wirbelnden Flocken zu schützen, betätigte er einen blank polierten Messingklopfer. Nichts rührte sich. Nach ein paar Minuten fragte er sich, ob überhaupt jemand zu Hause war. Drinnen brannte Licht, aber er hörte nichts. Die Hündin saß neben ihm und beobachtete ihn erwartungsvoll.
Als er die Hoffnung schon aufgeben und zu seinem Auto zurückkehren wollte, wurde die Tür zögernd geöffnet, und eine kleine alte Frau schaute ihn verwundert an. Zu einem grauen Rock trug sie einen hellblauen Pullover, den eine Perlenkette schmückte. Ihr schneeweißes Haar war zu einem adretten Knoten hoch gesteckt, und die leuchtend blauen Augen schienen Charlie aufmerksam zu mustern. Wie die Leiterin einer Frühstückspension sah sie nicht aus, eher wie die alten Damen, die ihm früher in Boston begegnet waren.
»Ja?« Sie öffnete die Tür nur ein kleines bisschen weiter, um den Hund ins Haus zu lassen. Aber Charlie war offenbar nicht willkommen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich sah das Schild - und ich dachte … Haben Sie im Winter geschlossen?«
»Nun, ich erwarte zu Weihnachten keine Gäste«, erwiderte sie etwas unsicher. »Am Highway nach Boston gibt's ein Motel, kurz hinter Deerfield.«
»Danke - tut mir Leid, ich …«, stammelte er verlegen und bereute, dass er sie gestört hatte. Sie wirkte so höflich und damenhaft, und er fühlte sich wie ein Rüpel, der sie unangemeldet überfallen hatte. Aber als er sich entschuldigte, lächelte sie. Erstaunt beobachtete er, wie ihre blauen Augen noch intensiver strahlten, voller Leben und Energie, obwohl sie sicher fast siebzig Jahre alt war. In ihrer Jugend musste sie sehr hübsch gewesen sein. Zu seiner Verblüffung zog sie die Tür weiter auf und bedeutete ihm
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