Die Erscheinung
strebte sie ein zurückgezogenes Leben auf dem Land an, ehe die Nachricht von ihrem Aufenthaltsort den Atlantik überqueren und bis zu Edward dringen konnte. Anfangs hatte sie geglaubt, in der Neuen Welt wäre sie vor ihm sicher. Nun begann sie seinen weit reichenden Einfluss sogar an der amerikanischen Ostküste zu fürchten.
Gemeinsam mit den Blakes feierte sie das Erntedankfest. Zwei Tage später wurde sie von den illustren Bowdoins zu einer Dinnerparty eingeladen, was ihre endgültige Aufnahme in die oberste Bostoner Gesellschaftsschicht bedeutete. Daran hatte sie kein Interesse, und zunächst wollte sie die Einladung gar nicht annehmen. Aber Belinda Blake bot ihre ganze Überredungskunst auf, und schließlich gelang es ihr, Sarah umzustimmen.
»Wie willst du denn jemals wieder heiraten«, tadelte Belinda nach der Party. Mittlerweile behandelte sie Sarah wie eine ihrer Töchter.
Mit einem wehmütigen Lächeln schüttelte Sarah den Kopf. »Ich werde nie wieder heiraten«, entgegnete sie entschieden.
»Natürlich weiß ich, wie du dich jetzt fühlst«, beteuerte Belinda und legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm. »Und Mr. Ferguson war sicher ein liebevoller, gütiger Mann.« Der Gedanke an Edward drehte Sarahs Magen um. Nicht einmal am Anfang der Ehe war er liebevoll und gütig gewesen. »Aber eines Tages wirst du jemanden finden, der dein Herz gewinnt. Meine liebe Sarah, du bist viel zu jung, um allein zu bleiben. Und vielleicht wirst du noch mehrere Kinder bekommen.«
Bei diesen Worten verdunkelten sich Sarahs Augen. »Ich kann nicht Mutter werden«, erwiderte sie tonlos.
»Vielleicht irrst du dich«, meinte Belinda. »Meine Kusine glaubte jahrelang, sie wäre unfruchtbar. Mit einundvierzig wurde sie plötzlich schwanger und brachte Zwillinge zur Welt.« Freudestrahlend fügte sie hinzu: »Und
beide
blieben am Leben! Sie war die glücklichste Frau auf Erden, und du bist noch viel jünger. Also darfst du nicht verzweifeln. Hier beginnt ein neues Leben für dich.«
Aus diesem Grund war Sarah nach Amerika geflohen. Um ein neues Leben anzufangen, aber gewiss nicht, um zu heiraten und Kinder zu gebären. Die schlimmen Erfahrungen mit Edward genügten ihr. Solche Qualen würde sie nicht noch einmal riskieren. Also begegnete sie den Junggesellen, die sie auf diversen Partys traf, sehr vorsichtig und vermied alles, was wie ein Flirt wirken mochte. Meistens unterhielt sie sich nur mit den Frauen. Nach einiger Zeit stellte sie allerdings fest, dass die Gentlemen interessantere Gesprächspartner waren. Aber bei solchen Konversationen schnitt sie niemals persönliche Themen an. Stattdessen erkundigte sie sich nach geschäftlichen Dingen, oder sie versuchte möglichst viel über die Verwaltung einer Farm zu erfahren. Dadurch faszinierte sie die Männer umso mehr, denn die anderen Frauen redeten immer nur über ihre Kleider und Kinder. Sarahs Bestreben, Distanz zu wahren, stellte einen zusätzlichen Anreiz dar, eine besondere Herausforderung.
Fast täglich stand ein Gentleman vor Mrs. Ingersolls Tür, um Sarah seine Aufwartung zu machen. Man schickte ihr Blumen und Obstkörbe, und ein junger Lieutenant, den sie im Arbucks' kennen gelernt hatte, schenkte ihr einen schmalen Gedichtband. Doch sie weigerte sich beharrlich, ihre Verehrer zu empfangen. Der 25-jährige Lieutenant Parker war besonders hartnäckig. Ein paarmal traf sie ihn zufällig im Gemeinschaftssalon der Pensionsgäste, wo er auf sie wartete. Beharrlich bot er ihr seinen Schutz an und hoffte, sie würde ihm erlauben, sie bei ihren Einkäufen zu begleiten, ihre Pakete zu tragen oder bei Einladungen an ihrer Seite zu erscheinen. Er war vor einem Jahr von Virginia nach Boston versetzt worden und nun bis über beide Ohren in Sarah verliebt. Obwohl sie seine Anhänglichkeit rührend fand, ärgerte sie sich, weil sie unentwegt über ihn stolperte, und sie wünschte, er würde möglichst bald eine junge Dame finden, die seine Avancen zu schätzen wüsste. Sie hatte ihm bereits erklärt, sie würde um ihren verstorbenen Ehemann trauern und nicht beabsichtigen, jemals wieder zu heiraten. Offensichtlich glaubte er ihr nicht.
»Was Sie in sechs Monaten oder einem Jahr empfinden werden, wissen Sie jetzt noch nicht«, behauptete er.
»Doch, und ich weiß auch, was ich in zwei - oder zehn Jahren empfinden werde.« Bis zu Edwards Tod würde sie sich verheiratet fühlen. Selbst wenn er starb, wollte sie auf gar keinen Fall eine zweite Ehe eingehen. Nie wieder würde
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