Die Erscheinung
Geschwätz von deiner Fairness …« Mühsam kämpfte er mit den Tränen, und Carole hörte es nur zu deutlich. »Im Juni wollt ihr heiraten! Unglaublich! Dann ist die Tinte auf der Scheidungsurkunde noch nicht einmal trocken!«
»Tut mir Leid, Charlie«, erwiderte sie leise, »ich kann's nicht ändern.«
»Mir tut's auch Leid, Baby.« Sein sanfter Ton zerriss ihr fast das Herz. Mit seinem Zorn erzielte er keine so intensive Wirkung. Doch das gestand sie ihm nicht. »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dir alles Gute zu wünschen, Carole.«
»Danke.« Zusammengesunken saß sie am Schreibtisch und weinte lautlos. Sie wollte beteuern, sie würde ihn nach wie vor lieben … Nein, das wäre grausam. In gewisser Weise würde ihre Liebe zu Charlie niemals erlöschen. Das alles war so verwirrend, so qualvoll. Wenigstens war sie nun überzeugt von der Richtigkeit ihres Anrufes. »Jetzt muss ich Schluss machen.« Es war halb zehn. In dreißig Minuten würde Simon im Club warten.
»Gib gut auf dich Acht«, bat Charlie heiser, und beide legten fast gleichzeitig auf. Ans Kopfteil des Betts gelehnt, schloss er die Augen. Einfach verrückt - ein paar Sekunden lang hatte er sich eingebildet, sie würde anrufen, um ihm zu erklären, die Affäre mit Simon sei beendet. Wieso war er so dumm gewesen?
Er stand auf, trat ans Fenster und starrte in den sonnigen Nachmittag hinaus. Plötzlich erschienen ihm Sarahs Tagebücher nicht mehr so wichtig. Er wollte nur noch ins Freie laufen und schreien. Und so schlüpfte er in seine Jeans, einen warmen Pullover, dicke Socken und eine Jacke. Wenig später versperrte er die Haustür hinter sich und stieg in sein Auto. Wohin er fahren würde, wusste er nicht. Vielleicht hatte Carole die Wahrheit erraten, und irgendwas stimmte nicht mit ihm, sonst würde er sich nicht ein halbes Jahr freinehmen. Aber in New York hatte er den Eindruck gewonnen, was anderes wäre ihm gar nicht übrig geblieben.
Ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern, fuhr er in die Stadt. Im Rückspiegel sah er sein verzweifeltes Gesicht. Seit dem Vortag hatte er sich nicht rasiert, die Augen schienen tief in den Höhlen zu liegen. Irgendwie musste er seinen Kummer verwinden. Oder sollte er Carole bis zu seinem letzten Atemzug nachtrauern? Wenn er sich jetzt schon so unglücklich fühlte - wie würde ihm erst im Juni zumute sein, bei ihrer Hochzeit?
Während er sich diese Frage stellte, fuhr er am Gebäude des Historischen Vereins vorbei. Aus unerfindlichen Gründen trat auf die Bremse. Sicher war Francesca die falsche Gesprächspartnerin, vermutlich noch tiefer verletzt als er selbst. Doch er musste mit jemandem reden, er konnte nicht einfach dasitzen und die Tagebücher lesen. Eine Aussprache mit Gladys Palmer würde ihm auch nicht helfen, das erkannte er instinktiv. Sollte er in eine Bar gehen und was trinken? Er musste Menschen sehen, Stimmen hören, irgendetwas unternehmen, um sich von seinem Kummer abzulenken.
Unschlüssig saß er am Steuer, und da sah er Francesca. Sie schloss die Tür ab und stieg die Eingangstreppe herunter. Dann schien sie merken, dass sie beobachtete wurde, denn sie wandte sich in seine Richtung. Ein paar Sekunden lang zauderte sie und fragte sich wohl, ob die Begegnung zufällig oder beabsichtigt war. Schließlich ging sie davon. Ohne lange zu überlegen, sprang er aus dem Wagen und folgte ihr. Jetzt dachte er nur noch an Sarah und François. So wie der Franzose, der Sarah erschreckt hatte, musste er die Initiative ergreifen. François war zu Sarah geritten, um sich zu entschuldigen, um ihr die Kette aus Bärenkrallen und die grünen Perlen zu schenken. Und Charlie hatte Francesca nicht einmal Angst eingejagt. Trotzdem floh sie vor ihm, seit sie sich kannten, von konstanter Furcht vor dem Leben erfasst, vor den Männern, vor allen Menschen.
»Warten Sie!«, rief er.
Irritiert drehte sie sich um. Was wollte er von ihr? Warum rannte er ihr nach? Sie konnte ihm nichts geben. Niemandem. Schon gar nicht diesem Mann.
»Verzeihen Sie«, bat er verlegen, und da merkte sie, wie elend er aussah.
»Sie können die Bücher auch morgen zurückbringen«, schlug sie vor, als wäre er ihr nur deshalb nachgelaufen. Unwahrscheinlich …
»Zum Teufel mit den Büchern!«, erwiderte er unverblümt. »Ich muss mit Ihnen reden - mit irgendj emandem …« In sichtlicher Verzweiflung breitete er die Arme aus.
»Ist was passiert?« Unwillkürlich empfand sie Mitleid. Er sank auf die Eingangsstufen eines
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