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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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ein Motelzimmer gönnen.
    Gut. Ja.
    Wir hielten vor dem Inn Stead, einem billigen, zweistöckigen Motel mit Pool. Unser Zimmer lag im ersten Stock. Sie klemmte mich unter ihre Achsel und trug mich nach oben. Im Zimmer war es kühl und dunkel, und der Spalt unter der Tür war so groß, dass selbst eine Schildkröte mühelos hätte hindurchkriechen können. Sie ließ ihre Tasche fallen und sagte: Komm, Win.
    Der Pool lag als hellblaues Rechteck im Abendlicht. Sie setzte mich an den Beckenrand und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Ich sah mich um. Wir waren allein. Sie sprang hinein. Platsch.
    Sie schwamm wie ein Fisch. Tauchte neben mir auf. Krallte sich mit den Fingern am Beckenrand fest. Grinste. Weil sie in einem Pool war. Ha. Ich begriff. Sie ahmte mich nach. Ich sah ihr in die Augen. Nasse Wimpern. Ob das Chlor ihrem Gerstenkorn wohl schadete. Die Windräder drehten sich wie Flugzeugpropeller in der Ferne.
    Wo fahren wir hin.
    Sie tauchte unter.
     
    Zwei Tage später übernachteten wir auf einem Campingplatz bei Las Vegas. Sie grillte Kartoffeln aus Idaho. Ich fraß Eisbergsalat aus einem Supermarkt namens Skagway. Das Feuer prasselte. Die Sonne ging unter. Las Vegas erhob sich strahlend aus der Wüste.
    Die Familie im Nebenzelt hatte vier Kinder. Das Kleinste lief ohne Hose umher und hieß Wackelwürmchen. Sie erklärte Wackelwürmchen, ich sei eine Schnappschildkröte, und er blieb auf Distanz. Ich durfte mich frei auf dem Campingplatz bewegen. Ich fraß einen Käfer, der hilflos strampelnd auf dem Rücken lag. Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil es auch einer Schildkröte so ergehen kann. Auch wir sind nicht immer standfest.
    Das Zeltdach hatte einen Reißverschluss. Wenn man ihn aufzog, konnte man durch ein Moskitonetz den Sternenhimmel sehen. Guck mal, Win.
    Wir durften nicht traurig sein. Wir durften nicht an Cliff denken.
    Der Himmel war mir durchaus nicht unbekannt. Hundert Jahre zuvor hatte ich die Wüste durchquert, lange bevor ich ich zu einem bloßen Gegenstand verkümmerte, zu dem Menschen nicht Nein sagen können. Ich hatte unzählige Sterne gesehen. Der Nachthimmel sieht so ähnlich aus wie das Innere meines Panzers. Aber das wusste Audrey natürlich nicht.
    Wir kamen nach New Mexico. Guck mal, Win. Der Rio Grande. Ich sah Leute, die mit langen Stöcken wanderten, wie Pilger. Ich sah Friedhöfe am Fuße roter Felsen. Wir überquerten einen Pass und kamen in einen Ort namens Angel Fire. Nur eine Straße führte nach Angel Fire. Einwohnerzahl: 1000. Warum wir nach Angel Fire fuhren. Weil Cliff es einmal beiläufig erwähnt hatte. Und es dort einen Skihügel gab.
    Wir zuckelten mit dreißig Meilen in der Stunde hinter einem Schulbus her. Sie überholte ihn in dem Moment, als er sein Stoppschild ausklappte. Dreimal dürfen Sie raten, wer hinter uns war. Der einzige Polizist in Angel Fire. Der dem Schulbus täglich hinterherfuhr, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Er winkte uns rechts ran. Er sagte: Was Sie da gerade getan haben. Und sah kopfschüttelnd in die Ferne, als fehlten ihm die Worte.
    Sie sagte, sie sei eine exzellente Autofahrerin. Sie habe noch nie eine Kollision gehabt. Sie hätte die kleinen Turnschuhe unter dem Bus bestimmt gesehen.
    Sie hätten unsere Einwohnerzahl ohne weiteres auf 999 reduzieren können.
    So etwas würde ich nie tun. Ich würde nie zur Reduzierung der Einwohnerzahl beitragen.
    Trotzdem, sagte er. Das Bußgeld war astronomisch.
    Als der Polizist endlich weg war, sagte sie: Jetzt muss ich mich erst mal setzen.
    Aber du sitzt doch schon.
    Sie stieg aus und setzte sich auf den Standstreifen. Ich wartete auf dem Armaturenbrett. Als sie zurückkam, sagte sie: Ich hätte die kleinen Turnschuhe unter dem Bus vielleicht doch nicht gesehen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den schneelosen Skihügel anzustarren.
     
    Der Grand Canyon war ein Hologramm. Wir schlugen oben unser Zelt auf. Es war kalt. Ein scharfer Wind. Ich finde, wir sollten hinuntersteigen, sagte sie und meinte: in den Canyon. Aber das ließen wir erst einmal bleiben. Stattdessen setzten wir uns an den Rand und ließen die Beine baumeln. Der Canyon sah irgendwie unecht aus. Dann gingen wir zum Zelt zurück und machten Wasser heiß. Ramen-Nudeln. Welker Salat.
    Wie ihr Plan aussah. Ich glaube nicht, dass sie einen hatte. Ich glaube, sie fuhr bloß ziellos in der Gegend und im Kreis herum, in der vagen Hoffnung, dass Cliff irgendwann unseren Weg kreuzen und zu uns stoßen würde. Oder

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