Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
umgekehrt.
Ich will mal so sagen: Die erste Trennung hält nie. Früher lebte ich in Texas, in einem seichten Fluss. Der Fluss war ein beliebtes Ausf lugsziel für Liebespärchen. Die Pärchen, die tagsüber kamen, trennten sich. Die Pärchen, die abends kamen, versöhnten sich. Meistens waren es dieselben Pärchen. Ich habe unzählige Male mit ansehen müssen, wie zwei Idioten sich in die Arme liefen, die Frau von links, der Mann von rechts. Oder umgekehrt. Und bisweilen, wenn sie an gegenüberliegenden Ufern standen, benutzen sie die Schildkröten (von denen manche so groß waren wie Teller) als Trittsteine. Wir nahmen es ihnen nicht übel.
Nein, ich habe nicht annähernd die Ausmaße eines Tellers. Ich bin etwa so groß wie ein handelsüblicher Feuermelder. Wenn Sie mich auf Ihre Handfläche setzen, baumeln meine Beine über die Kante. Es sei denn, Sie sind Cliff. Der Mann hat Hände wie ein Orang-Utan. Dann baumeln meine Beine nicht.
Wenn man vom Affen spricht, kommt er.
Noch hat Audrey ihn nicht gesehen. Sie rührt in ihren Ramen-Nudeln. Komisch, dass sie ihn nicht gehört hat. Der ganze Campingplatz macht Stielaugen und glotzt. Kein Wunder, sitzt er doch auf einer knatternden Harley mit flammrotem Tank. Angel Fire. Engelsfeuer . Das ist die Farbe. Ohne Helm. In Arizona gibt es keine Helmpflicht. Wallendes blondes Haar. Sonnenverbrannte Nase. Monsterhände.
Audrey kauert über ihrem kleinen Kocher. Ihre Fersen ragen aus den Sandalen.
Ich lasse ein Salatblatt fallen. Ähem.
Sie blickt auf.
Er bahnt sich einen Weg zwischen den Zelten hindurch. Und es ist genau wie damals am Fluss. Ihre Blicke finden sich, und dann läuft sie auf ihn zu. Oder, besser, stolpert. Sie verliert eine Sandale. Und ich gebe es nur ungern zu, aber der Kreditkartentrick war ein Geniestreich. Er hat uns gefunden.
Alle sehen zu.
Seine Arme wickeln sich gleich fünfmal um ihren Körper.
Ende der Vorstellung, flüstert er in ihren Pferdeschwanz.
Unser Zeltnachbar stochert in seinem Lagerfeuer und sagt: Also, ich fand das irgendwie rührend.
Cliff musste die Harley kaufen, um sie zu finden. Uns zu finden. Hallo, Iris, sagt er zu mir. Er bereut den Kauf der Harley nicht. Er schwärmt in den höchsten Tönen von ihr. Die übrigens Fat Boy heißt. Obwohl sie eine Sie ist.
Nachts im Zelt sagt sie: Ich musste mir einreden, dass es dich gar nicht gibt. So weh hat es getan.
Tut mir leid.
Sehr bewegend, das Ganze.
Am nächsten Tag beschließen wir oder, besser, sie, in den Canyon hinabzusteigen. Cliff sagt, er würde sich am liebsten einfach hineinfallen lasen. Sie sagt: Bitte nicht.
Der Canyon ist also doch kein Hologramm, sonst könnten wir ihn nicht begehen. Er ist vielmehr ein umgedrehter Berg, wie ich einem Schild entnehme. Was das heißt. Das heißt, Sie sollten bedenken, dass der Aufstieg, anders als bei einem Berg, noch vor Ihnen liegt, wenn Sie längst todmüde sind. Jetzt hüpfen Sie wie im Traum die engen Serpentinen hinab in wärmere Gefilde. Aber denken Sie daran, dass Sie sich später, wenn Sie längst todmüde sind, wieder nach oben schleppen müssen.
Cliff kann über derlei Warnungen nur lachen. Ich bin Kletterer, sagt er und schlägt sich auf die Brust.
Ich habe nur Sandalen an, sagte sie.
Ich werde getragen.
Die Leute, die uns entgegenkommen, pfeifen auf dem letzten Loch und legen bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine Pause ein. Sie lehnen sich an die kühle Canyonwand. O Gott, eine Schildkröte. Haben Sie die im Canyon gefunden.
Ja, sagt Audrey dummerweise.
Die können Sie aber nicht einfach mitnehmen.
Das war ein Scherz. Sie ist ein Haustier.
Wenn Sie Teil des Ökosystems ist, sagen sie mit aggressivem Unterton, können Sie sie nicht mitnehmen.
Oje, sagt Cliff.
Sie ist aber nicht Teil des Ökosystems.
Die müden Wanderer setzen sie feierlich davon in Kenntnis, dass sie den Diebstahl der Schildkröte melden werden. Wenn sie denn jemals oben ankommen sollten.
Tun Sie, was Sie nicht lassen können.
Wir setzen unseren Abstieg fort.
Wir begegnen einer Eselskarawane. Die Reiter sind laut und dumm. Die Esel haben schwarze Augen und runzlige Nüstern. Da der Pfad sehr schmal ist, kommen wir ihnen ziemlich nahe. Einer tritt nach Cliff. Cliff lacht bloß und gibt ihm einen Klaps aufs Hinterteil.
Natürlich verliebt sie sich in die Tiere. Sie geht neben einem Esel her und hält mich hoch, damit ich ihm in die Augen sehen kann.
Ich sehe den Grand Canyon auf dem Kopf und mich darin.
Als wir wieder oben
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