Die erste Todsuende
Füßen braune knöchelhohe Wildlederstiefel. Schottisch karierte Wollsocken, wollenes Reiterhemd, handgewebter Baumwollschlips, an dem eine Nadel in Form eines Pferdekopfes steckte. Ein ungewöhnlicher Anblick!
Doch Willows Augen waren lebhaft und aufgeweckt, und seine Bewegungen, als er Delaney das Glas Sherry abnahm, waren alles andere als fahrig.
„Auf Ihr Wohl, Sir", sagte der Lieutenant und hob sein Glas. Er nahm einen Schluck. „Harbey", erklärte er dann.
„Richtig."
„Und worum geht es?"
Delaney reichte Willow das Foto mit der Widmung auf der Rückseite, das Thomas Handry ihm gegeben hatte.
„Was können Sie mir über den Mann sagen, der dies geschrieben hat?"
Lieutenant William T. Willow warf nicht einmal einen Blick darauf, sondern sah vielmehr erstaunt zum Captain auf.
„Oh, ich fürchte, hier liegt ein Mißverständnis vor", sagte er. „Ich bin kein Graphologe, Captain, sondern Fachmann für gefälschte Dokumente. Urkundenfälschung oder mutmaßliche Fälschungen, also der Vergleich zwischen echten und falschen Dokumenten."
„Ah, ich verstehe. Aber Sie sind ein wenig mit Graphologie vertraut, oder?"
„Gewiß, Captain. Ich lese alles, was über das Thema Handschriftenanalyse veröffentlicht wird, aus welcher Quelle auch immer - ob sie nun gut ist oder schlecht."
Delaney nickte. Er faltete die Hände über dem Bauch und lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück.
„Lieutenant Willow", sagte er träumerisch. „Ich möchte Sie um einen ganz besonderen Gefallen bitten. Ich bitte Sie, einmal so zu tun, als wären Sie Graphologe und kein Experte für gefälschte Dokumente. Ich möchte Sie bitten, sich diese Handschriftenprobe da anzusehen und sie zu analysieren, wie ein Graphologe es tun würde. Worauf es mir ankommt, das ist Ihre Meinung. Mir geht es nicht um eine von Ihnen unterschriebene Analyse, und Sie werden auch niemals aufgefordert werden, etwa vor Gericht auszusagen. Das Ganze dient nur meiner persönlichen Information. Ich möchte bloß wissen, was Sie denken - als Graphologe, meine ich."
„Aber gern", sagte Willow. „Mit Vergnügen."
Er zog aus seiner Jackentasche eine ungewöhnliche Brille heraus: mit normalen Brillengläsern und darüber, zum Herunterklappen, zwei Vergrößerungsgläser. Dann hielt er Daniel Blanks Schriftzüge so dicht vor die Augen, daß er fast mit der Nase daraufstieß.
„Filzschreiber", sagte er sofort. „Schade! Da entgehen einem die Feinheiten. Mmm. Mmm. Interessant, hochinteressant. Captain, leidet dieser Mann an Verstopfung?"
„Keine Ahnung", sagte Delaney.
„Nein, nein", sagte Willow und starrte noch immer wie kurzsichtig auf Blanks Handschrift. „Nicht zu glauben! Krank, krank, krank. Und dies hier... Wunderschöne Großbuchstaben, einfach wunderschön." Er blickte auf und sah den Captain an. „Ist er in einer kleinen Stadt in den Mittelstaaten aufgewachsen - Ohio, Indiana, Iowa - irgendwo dort?"
„Ja."
„Um die Vierzig, oder älter?"
„Mitte Dreißig."
„Hm... ja, das kann sein. Palmer-Methode. Wird noch in ein paar Schulen gelehrt."
Plötzlich nahm er ruckartig die Brille ab und steckte sie fort, erhob sich halb, um das Foto auf Delaneys Schreibtisch zu legen, setzte sich dann wieder und goß sich noch ein Glas Sherry ein.
„Schizoid", sagte er und sprach dann sehr rasch. „Auf der einen Seite künstlerisch, sensibel, phantasiebegabt, sanft, feinfühlig, aus sich herausgehend, strebsam, voller Mitgefühl und großzügig. Die Großbuchstaben sind reine Kunstwerke. Fließend. Aufblühend. Auf der anderen Seite die Unterlängen, streng, gleichmäßig, starr nebeneinander: Sie verraten mechanisches Denken, geordnet, diszipliniert, rücksichtslos, gefühllos, unmenschlich, leblos. Das eine verträgt sich sehr schlecht mit dem anderen."
„Ja", sagte Delaney. „Ist dieser Mann geistesgestört?"
„Nein. Aber er bricht auseinander."
„Was heißt das?"
„Seine Handschrift bricht auseinander. Das läßt sich trotz des Filzstiftes erkennen. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Buchstaben sind nur ganz schwach angedeutet - zwischen manchen gibt es überhaupt keine. Und in seiner Unterschrift, die ja das Fließendste und Sicherste in der Handschrift eines Menschen sein soll, fängt er an unsicher zu werden. Er weiß nicht, wer er ist."
„Haben Sie vielen, vielen Dank, Lieutenant Willow", sagte Captain Delaney. „Bitte, bleiben Sie sitzen und trinken Sie Ihren Sherry aus. Erzählen Sie mir noch ein bißchen was über
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