Die Erzaehlungen 1900-1906
Nähe gesehen, und der Anblick meiner Don-
na, deren rote Lippen dürstend und gierig am Munde meines Vetters hingen,
brachte mich nahezu um den Verstand.
Dieser Kuß, meine Herrschaften, war zugleich für mich süßer und bitterer als irgendeiner, den ich selber je gegeben oder empfangen habe – einen einzigen
vielleicht ausgenommen, von dem ihr sogleich auch hören sollt.
Noch am selben Tage, während meine Seele noch wie ein verwundeter Vo-
gel zitterte, wurden wir eingeladen, morgen bei dem Bolognesen zu Gast zu
sein. Ich wollte nicht mitgehen, aber mein Vater befahl es mir. So lag ich wieder eine Nacht schlaflos und in Qualen. Dann bestiegen wir die Pferde und
ritten gemächlich hinüber, durch das Tor und den Garten, den ich so oft heimlich betreten hatte. Während aber mir höchst bang und elend zumute war,
betrachtete Alvise das Gartenhäuschen und die Lorbeergebüsche mit einem
Lächeln, das mich toll machte.
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Zwar hingen bei Tisch auch diesmal meine Augen ohne Unterlaß an Donna
Isabella, aber jeder Blick bereitete mir Höllenpein, denn ihr gegenüber saß
der verhaßte Alvise am Tisch, und ich konnte die schöne Dame nicht mehr
ansehen, ohne mir aufs deutlichste die Szene von gestern vorzustellen. Dennoch sah ich fortwährend auf ihre reizenden Lippen. Die Tafel war mit Speisen und Weinen vortrefflich besetzt, das Gespräch lief heiter und lebhaft dahin; aber mir schmeckte kein Bissen, und ich wagte an den Unterhaltungen nicht mit
einem Wörtchen teilzunehmen. Der Nachmittag kam mir, während alle andern
so fröhlich waren, so lang und schlimm wie eine Bußwoche vor.
Während der Abendmahlzeit meldete der Diener, es stehe ein Bote im Hof,
der den Hausherrn sprechen wolle. Also entschuldigte sich dieser, versprach, bald zurückzukehren, und ging. Mein Vetter führte wieder hauptsächlich die
Unterhaltung. Aber mein Vater hatte, wie ich glaube, ihn und Isabella durch-
schaut und machte sich das Vergnügen, sie ein wenig durch Anspielungen und
sonderbare Fragen zu necken. Unter anderm fragte er die Dame scherzend:
Sagt doch, Donna, welchem von uns dreien würdet Ihr am liebsten einen
Kuß geben?
Da lachte die schöne Frau laut auf und sagte ganz eifrig:
Am liebsten
diesem hübschen Knaben dort!
Sie war auch schon von ihrem Sessel aufge-
standen, hatte mich an sich gezogen und gab mir einen Kuß – aber er war
nicht wie jener gestrige lang und brennend, sondern leicht und kühl.
Und ich glaube, dies war der Kuß, der für mich mehr Lust und Leid als
jemals irgendein anderer enthielt, den ich von einer geliebten Frau empfing.
Piero trank seinen Becher aus, stand auf und erwiderte die Höflichkeiten der Venezianer; dann ergriff er einen von den Leuchtern, nickte dem Abt gute
Nacht und ging hinaus. Es war ziemlich spät geworden, und auch die beiden
Fremden gingen nun sogleich zu Bett.
Wie gefiel er dir?
fragte Luigi, als sie schon im Dunkeln lagen.
Schade, er wird alt , sagte Giambattista und gähnte.
Ich bin wirklich
enttäuscht. Statt einer guten Novelle kramt er Kindererinnerungen aus!
Ja, das ist bei alten Leuten so , erwiderte Luigi und streckte sich unterm
Linnen.
Immerhin spricht er glänzend, und erstaunlich ist auch, was für ein
gutes Gedächtnis er hat.
Zur selben Zeit begab sich der alte Piero zu Bett. Er war müde geworden.
Auch bereute seine Eitelkeit es jetzt, daß er nicht etwas anderes zum besten gegeben hatte, was er ja leicht hätte tun können.
Das eine aber erfreute ihn und machte ihn herzlich lächeln, daß seine Im-
provisatorgabe doch immer noch ungeschwächt war. Denn seine Geschichte
samt Landhaus, Vetter, Magd, Donna, Lorbeergebüsch und beiden Küssen
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war nichts als eine Fabel gewesen, im Augenblick für den Augenblick erfun-
den.
(1903)
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Karl Eugen Eiselein
Schorsch Eiselein, Kolonialwarenhändler in Gerbersau, besaß einen Kaufladen, von dem er anständig und bequem leben konnte und der ihm wenig Sorgen
machte, und eine kluge kleine Frau, mit der er überaus zufrieden war, ferner einen kleinen Sohn, der vom Vater sowohl wie von der Vorsehung zu Höherem
bestimmt war und ihm darum viele Sorgen machte.
Dieser Sohn hieß Karl Eugen, und es wollte etwas bedeuten, daß er von klein
auf nicht Karl oder Eugen, sondern stets mit dem fürstlichen Doppelnamen
Karl-Eugen gerufen ward. Dementsprechend gab der Kleine auch für zwei zu
tun und zu sorgen, schrie für zwei und brauchte Windeln und Kleider für
zwei, bis er
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