»Die Essensfälscher«. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen
wird in den USA unter Wissenschaftlern und in den Medien schon lange über die Vergleichbarkeit von »Big Tobacco« damals und »Big Food« heute diskutiert. Ihr stärkstes Bild fand die Debatte in einem Titel des »Fortune Magazine« im Jahre 2003: »Is Fat the Next Tobacco?«, fragte die Schlagzeile, und das Cover zeigte ein Pommes frites, das wie eine Zigarette glimmend in einem Aschenbecher lag.
Man mag darüber streiten, ob es angemessen ist, das Krebsrisiko durch Nikotin mit dem Gesundheitsrisiko durch den Konsum zuckersüßer Limonaden und fetthaltiger Speisen zu vergleichen; man kann diskutieren, ob es sinnvoll ist, die Millionen Lungenkrebsopfer in einem Atemzug zu nennen zum Beispiel mit den Übergewichtigen, die an einem Herzinfarkt oder Diabetes starben, sich zwar oft völlig falsch ernährten, auch rauchten und überhaupt einen höchst ungesunden Lebensstil pflegten. Auch die Abwehrtechniken der Lebensmittelindustrie gegen die Angriffe von Kritikern sind keineswegs nur aus Zeiten von »Big Tobacco« bekannt: Praktisch jede Industrie von den Automobilkonzernen bis zur Chemie und zur Energiewirtschaft hat in der Vergangenheit auf Angriffe mit der Diskreditierung der kritischen Wissenschaftler reagiert, mit selbst finanzierten, inhaltlich dürftigen Gegen-Studien, durchsichtigen Vorschlägen zur Selbstregulierung.
Was »Big Tobacco« von damals mit »Big Food« von heute jedoch verbindet, ist die Art und Weise, wie beide Branchen Falschmünzerei sozusagen zum Geschäftsmodell erhoben haben, wie Verbrauchertäuschung zum konstitutiven Element ihrer Geschäftspolitik werden konnte. Obwohl das Lebensmittelgesetz ausdrücklich die »Täuschung« und »Irreführung« der Verbraucher verbietet, nutzen die Firmen gnadenlos sämtliche legalen (und einige illegalen) Spielräume, die ihnen durch zahllose ergänzende Einzelbestimmungen, »Verkehrsbezeichnungen« und Deklarationsregeln eröffnet werden – an denen sie in der Regel auch noch selbst mitgewirkt haben. Die meisten Hersteller haben inzwischen gelernt, ihre Produkte zwar gesetzlich korrekt zu kennzeichnen, aber sie verstehen es genauso gut, diese Kennzeichnung durch inhaltlich gegenläufige werbliche Aussagen oder durch das konsequente Ausnutzen der zahlreichen legalen Schlupflöcher zu konterkarieren. Ganz offensichtlich spekulieren sie dabei auf den arglosen, unwissenden, überforderten Konsumenten.
Das zeugt von einem elitären, geradezu vordemokratischen Verbraucher-Leitbild, das den Kunden in öffentlichen Reden zwar gerne als »mündigen Konsumenten« beschreibt, ihn im Alltag aber mit unlesbaren Schriften, unvollständigen und verschleiernden Angaben und Werbebotschaften verhöhnt und letztlich außer Stande lässt, mündige Entscheidungen zu treffen. Die Hersteller und der Handel verweigern ihrer Kundschaft schlicht das Recht auf klare, verständliche Informationen und signalisieren, dass Verbraucher ohne detektivischen Eifer oder ein Studium der Lebensmitteltechnologie praktisch chancenlos sind. Schamlos spielt die Lebensmittelindustrie dabei ihren Einfluss und ihre Macht aus, die sie sich in 60 Jahren Bundesrepublik gesichert hat: Keine andere Branche verfügt wie die Lebensmittelbranche über ihr »eigenes« Ministerium – das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – und kann ihre Interessen so skrupellos durchsetzen wie die Ernährungswirtschaft. In Komplizenschaft mit einer verfilzten Politik, die sich vornehmlich als Dienstleister der globalen Nahrungsmittelkonzerne versteht, bestimmt sie weitgehend den öffentlichen Diskurs. Die enge Verzahnung zwischen der Politik und der Nahrungsmittelindustrie hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das gegen den Geist unserer Verfassung verstößt. Primärer Verfassungsauftrag des Staates ist es gerade nicht, sich mit den stärksten Lobbygruppen gemein zu machen, sondern gerade die Gemeinwohlgüter zu schützen, die sich nicht gegen hochgradig organisierte und durchsetzungsstarke Interessenverbände durchsetzen können.
Viele Unternehmenschefs haben bis heute nicht die Zeichen der Zeit erkannt und blockieren durch ihr Verhalten den längst überfälligen Wandel zu einer modernen Produzenten-Kunden-Beziehung. Geprägt durch ein borniertes Politikverständnis und angetrieben von einem einfallslosen Wachstumsglauben klammern sie sich an ein überlebtes Geschäftsmodell und präsentieren sich damit als zurückgebliebene, veränderungsresistente Manager.
So wird eines
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