»Die Essensfälscher«. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen
im Kampf gegen Übergewicht, Fettleibigkeit und galoppierende Kosten durch Folgekrankheiten. Die Ampel ist deshalb aber keineswegs eine Bevormundung der Verbraucher; die sind unverändert frei, sich zu 100 Prozent mit Lebensmitteln zu ernähren, die wahre Kalorienorgien in Rot verheißen. Genauso wenig wäre die Ampel Willkür gegen die unternehmerische Freiheit.
Die Ampel bedeutet eine demokratisch legitimierte, in Gesetze gefasste Marktintervention, wie sie auch anderen Branchen, etwa der Tabakindustrie, zugemutet wurde. Niemand hat das Rauchen verboten oder die Herstellung von Zigaretten oder ihren Handel; es ging lediglich um Gesetze zur Verpackungsgestaltung, zum Rauchen in öffentlichen Räumen, zur Werbung und zum Verkauf an Kinder und Minderjährige. Auch die Ampel würde kein einziges Produkt aus den Regalen entfernen – das würde allenfalls »König Kunde« tun. Die Ampel wäre lediglich eine für alle Hersteller verbindliche Regel, die verlangt, drei Farben und ein paar Zahlen auf jede Lebensmittelverpackung zu drucken.
Die Vehemenz, mit der sich die Lebensmittelwirtschaft dennoch gegen die Ampelkennzeichnung sträubt und die Sturheit, mit der sie am wirkungslosen, nicht praktikablen GDA -Modell festhält, zeigt, wie sehr die Branche die Veränderung fürchtet. Denn tatsächlich wäre die Ampel weit mehr als eine kleine, dreifarbige Standard-Graphik auf jedem Lebensmittel; die Ampel wäre auch ein Zeichen dafür, dass der Einfluss der Verbände und Konzerne zurückgedrängt wurde, dass zum ersten Mal Verbraucherinteressen vor Industrieinteressen gestellt würden. Die Ampel träfe die Lebensmittelwirtschaft ins Mark, weil sie das Tricksen und Täuschen erschweren würde. Die Branche will Transparenz nur propagieren, aber nicht praktizieren. Bezeichnend ist, wie systematisch die Branche ausblendet, dass das zahlenüberfrachtete GDA -Modell gerade für jene völlig untauglich ist, die am gefährdetsten sind für Übergewicht und Fettsucht: Auch Menschen, die keine Dreisatzrechnungen aus dem Ärmel schütteln, auch Alte und Kranke mit dicken Brillengläsern und zittrigen Händen verdienen die Chance, sich dank verständlicher Deklarierung auf den Verpackungen vernünftig zu ernähren.
Vergegenwärtigt man sich die Situation der Branche, fällt einem unwillkürlich das Bild einer Wagenburg ein. Fixiert auf die Angst, Wachstum und Profite könnten stagnieren oder gar zurückgehen, nehmen Hersteller und Handel offenbar nicht mehr wahr, wie sich um sie herum immer mehr geballter Sachverstand mit guten Argumenten pro Ampelkennzeichnung versammelt. Der Deutsche Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, die Bundesärztekammer, die Patientenorganisationen Deutsche Herzstiftung und diabetesDE, dazu der AOK -Bundesverband, der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen sowie die Verbraucherzentralen – sie alle unterschrieben Anfang 2010 einen Brief an die deutschen EU -Abgeordneten in Brüssel, in dem sie die Lebensmittelampel fordern. Sie sei eine »verständliche und verbraucherfreundliche Nährwertkennzeichnung« und »Entscheidungshilfe« bei der Auswahl von Lebensmitteln. Untermauert wurde die Forderung mit den bekannten, gleichwohl unverändert alarmierenden Zahlen: In Deutschland sind zwei von drei Männern und jede zweite Frau übergewichtig oder adipös, also stark fettleibig; zusätzlich gelten 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche als übergewichtig, davon 800 000 als adipös. Übergewicht und Adipositas seien wichtige Risikofaktoren für chronische Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, heißt es in dem Brief an die Europa-Parlamentarier. Mit ähnlichen Aussagen wandte sich der Verband der europäischen Sozialversicherer, das ist die Dachorganisation von mehr als 40 nationalen Verbänden, ans EU -Parlament, ebenso die Vereinigung der europäischen Kinderärzte. »Wir bitten Sie dringend, nicht nur die Interessen der Nahrungsmittelindustrie zu unterstützen«, schrieben die Kinderärzte an die europäischen Volksvertreter. Nicht zu vergessen repräsentative Umfragen in Deutschland durch Krankenkassen und Verbraucherschutzorganisationen, in denen sich die Befragten, darunter Eltern, mit überwältigenden Mehrheiten für die farbliche Kennzeichnung von Lebensmitteln aussprachen.
Doch die Spitzenverbände der Lebensmittelwirtschaft sind dadurch offenbar nicht zu beeindrucken. Ebenso wenig durch Marktstudien wie jene der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Nürnberg, die
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