Die ewige Bibliothek
selbst das Buch suchen gehen, ein Akt der Buße und Erlösung. Doch die Nacht hatte auch von ihm ihren Preis verlangt, und so willigte er ein.
Das Cafe Central lag nur wenige Minuten entfernt unter einem zart orangefarbenen Himmel. Galen und Michael nahmen Platz und tranken ihre erste Tasse Kaffee. Um zwanzig vor zwölf, nachdem sie einander drei Stunden lang finster angeschaut und wütend geschwiegen hatte, beschloss Michael, die weiße Fahne zu schwenken. »Also… haben Sie irgendwelche Pläne für den Tag?«
Galen blickte mit einem resignierten Gesichtsausdruck von seiner x-ten Tasse Kaffee auf. Seufzend stellte er die Tasse auf dem Tisch ab und beugte sich zu dem Historiker hinüber. »Eigentlich hatte ich Pläne. Um zehn hatte ich eine Besprechung, und eine weitere um zehn Uhr fünfundvierzig.«
»So? Ging es um irgendwas Interessantes?«
Todesstrahlen aus Galens Augen schnitten die weiße Fahne in Stücke und setzten sie in Brand. »Ja, tatsächlich. Bei der ersten handelte es sich um eine Besprechung mit dem Senat und dem Rektor, während der ich unter anderem vor hatte, mich dafür einzusetzen, dass Sie Ihre Stelle behalten. Die zweite war eine Besprechung mit dem Verwaltungsleiter über das Budget für das Sommerprogramm, die unter anderem die Finanzierung Ihrer Abteilung zum Inhalt hatte. Haben Sie sonst noch Fragen?«
Michael schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich schätze, das reicht. Danke.«
Fünf Minuten vor zwölf kam Juda zur Tür des Cafe Central herein. »Seid gegrüßt und wohl bekomm’s, die Herren.«
Er wirkte frisch gewaschen und nicht im Geringsten mitgenommen – ganz im Gegensatz zu den beiden Professoren, die aussahen, als hätten sie anstelle von Kaffee wiederholt Prügel bezogen. Er trug außerdem eine Zeitung bei sich, sonst allerdings nichts, das auch nur im entferntesten nach einem Manuskript aussah.
»O Scheiße«, sagte Michael. »Es tut mir Leid, Galen.«
Galen zuckte mit den Schultern. »Vergessen Sie’s. Ich habe sowieso angefangen, alles nur für einen schlechten Traum zu halten.« Er rieb sich stöhnend den Kopf und fuchtelte wild mit den Händen. »Hinfort! Hinfort, kleines Gespenst des Alkohols! Geh und verfolge jemand anderen mit deinen Lügengeschichten, deinen verlorenen Büchern und deinen magischen Mönchen. Ich habe genug von dieser Sache.«
Juda setzte sich und winkte nach einem Kellner. »Wie Sie meinen«, sagte er mit seinem breiten Lächeln. »Zumindest haben Sie immer noch Ihre akademische Karriere, auf die Sie zurückgreifen können«, schloss er und warf die Zeitung auf den Tisch.
Galen machte Anstalten zu gehen, als sein Blick auf die Überschrift fiel. Mit gerunzelter Stirn setzte er sich wieder und überflog den Text, dann noch einmal die Überschrift, bevor er zu Juda aufsah. Der matte Blick in seinen Augen war von einem bangen Schimmer ersetzt worden.
»Ist das wahr?«, wollte er von Juda wissen. »Ist Vohlmann tot?«
»›Jede Neuigkeit, die sich zu drucken lohnt‹, und so weiter. Ja, ich denke, es ist wahr«, sagte Juda. »Zwei erledigt, bleiben noch zwei, was, Galen?«
Der Musiker, der Professor geworden war und sich plötzlich daran erinnerte, dass er auch Vizerektor an der Universität Wien war, hörte schon nicht mehr zu. Er griff nach seinem Umhang, drehte sich auf dem Absatz um und eilte zur Tür hinaus.
»Sachertorte, Professor Langbein?«, fragte Juda, als der Kellner einen Teller auf den Tisch stellte. »Die beste in ganz Wien.«
»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Michael. »Wer ist Vohlmann?«
»Sie leben wirklich in Ihrer eigenen kleinen Welt, was, Professor? Vohlmann war der achtzigjährige Vizerektor an der Universität. Anscheinend Herzinfarkt.«
»Wow«, sagte Michael. »Das bedeutet, es gibt nur noch zwei aktive Vizerektoren, wo der andere doch übergeschnappt ist und so weiter.«
»In der Tat«, erwiderte Juda und nippte an seinem Kaffee, »und einer von beiden ist ein Erbsenzähler ohne Erbsen. Galens Anteil am Kuchen ist gerade deutlich größer geworden.«
»Wissen Sie was«, sagte Michael nachdenklich, »die neue Amtsperiode fängt nächstes Jahr an – wäre das nichts, wenn Galen Rektor werden würde? Ich wette, in einer solchen Position könnte er eine Menge erreichen.«
»Ja«, sagte Juda. »Das wäre schon was.«
»Sagen Sie«, meinte Michael, »wegen des Manuskripts…«
Juda erhob in einer klagenden Geste die Hände. »Wir müssen dem Universum vertrauen, Michael. Das Manuskript
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