Die ewige Straße
der Nacht. Doch sie hatte begriffen, daß die Erwachsenen belustigt auf ihre Berichte reagierten, noch während sie vorgaben, erstaunt und fasziniert zu lauschen. In jenen Tagen waren der Himmel und die Wälder voll von göttlichen Mächten gewesen. Stimmen, die zu ihr sprachen, und unsichtbare Hände, die Tag und Nacht über die Welt brachten.
Es war eine Vision, die sie niemals vergessen hatte. Auch nicht, nachdem in der Familie Spannungen aufgekommen waren und sie nach Fernstraße geflohen war, wo sie drei lange Jahre als Tänzerin und Schauspielerin vor den Männern auftrat, die auf dem Fluß und an den Docks arbeiteten.
Ihretwegen trugen die Männer damals blutige Kämpfe aus. Einer, dessen Namen Avila niemals erfahren hatte, ein junger Bursche von nicht einmal zwanzig Jahren, war dabei gestorben.
In jener Nacht hatte sie auf der Straße gekniet, die Arme voller Blut, und zum ersten Mal die Gegenwart der Göttin gespürt.
Nichts war Avila Kap natürlicher erschienen, als im fortgeschrittenen Alter von zweiundzwanzig Jahren dem Orden von Shanta der Heilerin beizutreten, und seither hatte sie ihr Leben dem Dienst an der Göttin und ihren Mitmenschen verschrieben.
Es war eine erfüllte Existenz gewesen. Anfangs hatte Avila stets die göttlichen Schritte neben sich gehört, wenn sie des Nachts durch die dunklen Straßen geeilt war, um heimgesuchten Familien zu helfen. Doch mit den Jahren war das Geräusch schwächer geworden, und schließlich war es verklungen wie Stimmen in einem vorbeitreibenden Boot.
In der Nacht, in der Tully starb, war sie in ihre Kammer zurückgekehrt, in die Wärme und den Schutz vor dem kalten Regen draußen, und lag bis zum Einbruch der Dämmerung wach. Sie fühlte nichts in der Dunkelheit. Keine Macht, keinen Geist, der in der Nähe weilte, um die Heilerin zu heilen, keine geflüsterten Versicherungen, daß alles eine Bestimmung hätte.
Avila war allein. Sie alle waren allein. Was hatte der junge Mann, den sie Orvon gerufen hatten, in Silas Glotes Seminar gesagt? Wir sehen vielleicht nur das, was wir sehen wollen. Sie hatte in ihm den Wunsch zu glauben gespürt, zusammen mit einer schwelenden Wut.
Aber – wenn keine Göttin mit ihr hinaus in die Nacht ging, wie kam es dann, daß ihre Medizinen halfen?
Andererseits – warum halfen sie nicht immer? Selbstverständlich kannte Avila die dogmatische Antwort: Shanta wollte eben nicht immer, daß eine Krankheit geheilt wurde. Wenn aber die ganze Sache von Shantas Willen abhängig war – warum gab Avila sich dann überhaupt mit Medizin und Heiltränken ab?
Während der zwei Wochen, die seit Tullys Tod vergangen waren, hatte Avila Kaps Seele einen dunklen Widerstreit ausgefochten. Sie spürte, wie ihr altes Selbst nach und nach entschlüpfte, und mit ihm alles, woran sie geglaubt und was in ihrem Leben eine Bedeutung gehabt hatte.
Sie wußte inzwischen, daß sie den Orden verlassen würde. Der Entschluß war ihr nicht leicht gefallen. Die Welt draußen stand ehemaligen Priesterinnen feindselig gegenüber. Selbst Bürger, die ihren religiösen Obliegenheiten in der Regel eher wenig Aufmerksamkeit widmeten, schienen einen Drang zu verspüren, ihre moralische Rechtschaffenheit zu beweisen, indem sie diejenigen Diener der Göttin schlecht behandelten, die ihren Posten verlassen hatten. Doch Avila konnte nicht länger so tun, als glaubte sie.
Die eigentliche Aufgabe, die sich jetzt stellte, war ganz einfach: Was konnte den Orden ersetzen und ihrem Leben eine Bedeutung geben? Sie war gebildet und konnte sich ohne Schwierigkeiten einen Lebensunterhalt verdienen, doch sie verspürte nicht die geringste Lust, sich ausschließlich dem Geldverdienen zu widmen.
Zu anderen Zeiten, wenn sie vor schwierigen Entscheidungen gestanden hatte, war sie in die grüne Kapelle gegangen, die ihren Namen den zahlreichen und üppigen Pflanzen verdankte, die an den Wänden und rings um den Altar aufgereiht standen. Dort war ihr noch jedesmal eine Lösung eingefallen. Heute hingegen blieb sie in den Gemeinschaftsräumen oder in ihrer Kammer. Und wenn nächtliche Hilferufe eintrafen, dann ging sie hinaus wie immer und klammerte sich an die Reste ihres schwindenden Glaubens, genau wie die Familien, die sie besuchte, sich an die sterbenden Väter und Ehefrauen und Kinder klammerten.
Silas hatte vier Schreiber angestellt und mit dem Kopieren des Yankee aus Connecticut beauftragt. Selbstverständlich arbeitete jeder von ihnen an einer eigenen Ausfertigung. (Die
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