Die ewige Straße
Hühnerbrust. »Haven bedeutet Jon überhaupt nichts«, sagte sie schließlich. »Aber wie steht es mit Ihnen? In zehn Jahren werden Sie siebzig sein. Sie werden auf diesen Tag zurückblicken und wissen, daß Sie eine Chance hatten, das gesamte Werk Mark Twains und wer weiß was sonst noch alles zu finden, und es war Ihnen egal? Weil es zu gefährlich war?«
Illyrische Frauen, die man in kompromittierenden Situationen vorfand, verloren ihren Ruf, ihre Zukunftsaussichten und häufig auch noch ihren Lebensunterhalt. (Für Männer galten – wie üblich – andere Maßstäbe.)
Kein anständiger Mann würde sich öffentlich mit einer Frau einlassen, die in einen Skandal verwickelt gewesen war. Sie war an ihrer Arbeitsstelle nicht mehr willkommen, ihre Kunden verschwanden, sie konnte damit rechnen, von ihrer Familie vor die Tür gesetzt zu werden.
Die Risiken für unverheiratete Frauen wurden dadurch schlimmer, daß es keine verläßlichen Kontrazeptiva gab. Zahlreiche Salben und Öle sollten die Empfängnis verhüten, doch sie mußten vor einer sexuellen Aktivität angewendet werden, und es war schwierig, ihre Wirksamkeit zu verifizieren. Niemand führte Statistiken, und jeder log, wenn die Sprache auf Sex kam. Für Chaka sah es – wie für die meisten anderen Frauen auch – ganz danach aus, als würden die möglichen Konsequenzen den Spaß bei weitem übertreffen. Und so regierte in Illyrien die Tugend.
Dieser Zustand war in gewisser Hinsicht den Königen und Imperatoren zu verdanken, die der Auffassung gewesen waren, eine stabile Stadtgemeinschaft erfordere eine gefestigte Familientradition. Mit Hilfe einer mächtigen Priesterschaft und einer Reihe von Gesetzen, die die Ehescheidung verboten und die sexuelle Aktivität innerhalb der Ehe beschränkten, hatten sie ihre Ziele durchgesetzt. Wer gegen die Gesetze verstieß, wurde unnachgiebig bestraft, bis hin zum Tod am Marterpfahl, wie es eine Zeitlang unter Aspik III. und Mogan dem Weisen üblich gewesen war.
Im Zeitalter der Republik galten derartige Gesetze und Strafen als barbarisch. Nichtsdestotrotz lebte der Moralkodex fort, aus dem sie entstanden waren. Wenn auch Frauen, die dagegen verstießen, nicht mehr länger an Leib und Leben bedroht waren, so verloren sie doch praktisch alles andere.
Chaka war zwar keine Jungfrau mehr, doch sie überschritt nur selten die Grenze. In letzter Zeit hatte sie überhaupt keinen Sex mehr gehabt. An jenem Abend jedoch, nachdem sie von ihrem frustrierenden Treffen mit Silas Glote und Jon Shannon zurückgekehrt war, mußte sie unbedingt mit Raney sprechen und seine Gegenwart spüren. Sie würde jeden Trost akzeptieren, den er ihr bieten konnte. Deswegen hatte sie auch Jon Shannons Angebot ausgeschlagen, sie nach Hause zu begleiten. (»Was werden Sie jetzt unternehmen?« hatte Shannon sie gefragt, als sie aufgebrochen war, und sie hatte geantwortet, daß sie der Fährte folgen würde, daß sie genug Freunde hätte, und daß es eine ganze Reihe von Leuten gäbe, die ihr nur zu gern bei der Suche nach Haven helfen würden. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und sie noch einmal gewarnt, ihren Plan durchzuführen. »Und wenn Sie wirklich gehen müssen«, hatte er gesagt, »dann nehmen Sie wenigstens keine Fremden mit. Nehmen Sie niemanden mit, dem Sie nicht Ihr Leben anvertrauen würden. Denn genau darauf wird es ankommen.«)
Raney lebte allein in einem kleinen Bauernhaus außerhalb von Epton Village, gut zwei Meilen nordwestlich der Stadt. Chaka ritt durch das Nordtor hinaus und über den Cumbersak-Weg.
Das Reisen in der näheren Umgebung Illyriens war relativ sicher geworden.
Die Straßen wurden streng bewacht, jetzt, da die Kriege zu Ende waren, und die einstigen Banditen, die früher nach Sonnenuntergang die Herren der Straße gewesen waren, versteckten sich entweder in den Wäldern oder waren tot. Trotzdem führte Chaka stets einen Revolver mit sich, wenn sie in der Nacht durch die Gegend ritt.
Der Mond stand hoch, und es war bereits spät, als sie die Hecke erreichte, die Raneys Fachwerkhaus umgab. Sein Hund Clip schlug an, als sie sich näherte, und Raney tauchte im Eingang auf.
»Mit dir hätte ich heute nacht ganz bestimmt nicht gerechnet«, sagte er. »Und? Wie ist euer Treffen abgelaufen?«
Sie warf ihm die Zügel zu und stieg von ihrem Pferd. »Hätte besser sein können«, sagte sie.
»Glote war also nicht beeindruckt?«
»Das könnte man so sagen.«
Er blickte sie an. »Das tut mir leid.«
Sie zuckte
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