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Die Fäden des Schicksals

Die Fäden des Schicksals

Titel: Die Fäden des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Bostwick
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»Mit ihr reden? Aber wie denn? Was soll ich denn sagen?«
    Seufzend legte Evelyn den Kopf schief und blickte mich mit müden Augen an. Dann legte sie mir ihre behandschuhte Hand auf die Schulter. »Die Wahrheit, Abigail. Sag ihr einfach die Wahrheit. Nur so kann es gehen.«
    Ich versuchte, Evelyns Rat zu befolgen und ein Nickerchen zu machen, doch zwei Stunden später lag ich noch immer hellwach unter dem blau-gelben Grandmother’s-Fan -Quilt, den Evelyn mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich sollte Liza die Wahrheit sagen, hatte mir Evelyn geraten. Aber was war die Wahrheit? So viele Jahre und Jahrzehnte meines Lebens hatte ich versucht, nicht an die Vergangenheit zu denken, dass ich es mir selbst nicht mehr recht hätte erklären können, geschweige denn Liza – diesem Kollateralschaden im Krieg zweier Schwestern, die einst unzertrennlich gewesen waren.
    Vor mehr als vierzig Jahren, als ich in Lizas Alter war, hätte ich mir nie vorstellen können, dass jemals etwas zwischen meine Schwester und mich treten könnte. Wie hatte alles angefangen? Mit Susan? Mit David? Nein. Es begann früher. Viel früher.
    Während der ersten sechs Jahre meines Lebens war ich ein Einzelkind, was mir damals ausgezeichnet gefiel.
    Doch an einem Sommertag des Jahres 1950 hielt mein Vater vor dem Haus meiner Großmutter Alice in Winthrop, sprang aus dem Packard und lief um den Wagen herum, um Mutter die Tür zu öffnen. Dann nahm er ihr das in rosa Flanell gewickelte Bündel aus dem Arm, und damit veränderte sich meine Welt für immer. Mit fliegenden Zöpfen und offenen Armen rannte ich über den Gehsteig auf meinen geliebten Vater zu, überglücklich, ihn zu sehen. Als ich bei ihm ankam, ließ sich Vater auf ein Knie nieder und schlug eine Ecke der rosa Flanelldecke beiseite.
    »He, Kätzchen, sieh mal! Das ist dein neues Schwesterchen Susan. Was hältst du von ihr?«
    Ich hielt sie für das schönste Baby auf der ganzen Welt, und von jenem Tag an legte ich mich mit jedem an, der etwas anderes behauptete. Allerdings hätte keiner so etwas behauptet, denn Susan war tatsächlich ein schönes Kind, das zu einer schönen Frau heranwuchs. Ich war völlig vernarrt in sie. Wir waren vernarrt ineinander. Alle Leute in Winthrop sprachen darüber und sagten zu meiner Mutter, sie hätten noch nie zwei Schwestern gesehen, die sich näherstünden. Und das stimmte auch. Kein Kind hatte sich jemals hingebungsvoller um seine jüngere Schwester gekümmert als ich. Um sie zu beschützen, hätte ich alles getan. Doch als wir älter wurden, gestaltete sich das immer schwieriger.
    Mein Vater war ein gut aussehender Mann, witzig, charmant und ein wenig stutzerhaft. Selbst zu Hause sah ich ihn nie anders als in einem dreiteiligen Anzug mit Krawatte. Er hatte meine Mutter, die damals erst siebzehn war, beim Tanzen kennengelernt. Vier Wochen später waren sie verheiratet. Vater war Börsenmakler an der Wall Street, doch da er der festen Überzeugung war, dass Manhattan nicht der geeignete Ort für eine Familie wäre, zog er mit Mutter, sobald sie schwanger wurde, nach Winthrop, wo sie zusammen mit Großmutter Alice in seinem Elternhaus lebten. Vater hielt sich ein kleines Apartment in der Stadt und fuhr jedes Wochenende zu seiner jungen Familie aufs Land. So wuchsen wir Kinder auf, und als ich noch kleiner war, dachte ich mir nichts dabei. Ich himmelte meinen Vater an und hätte ihn auch gern während der Woche um mich gehabt, doch andererseits war ich sehr stolz auf das großartige Leben, das er in New York führte.
    Die Väter meiner Freundinnen hatten bloß öde Jobs im öden Winthrop. Sie lebten mit ihren Familien in kleinen Häuschen und fuhren noch kleinere alte Autos. Mein Vater dagegen fuhr alle zwei Jahre in einem funkelnagelneuen Packard vor, und wir lebten im größten Haus der Stadt, auch wenn Mutter sich darüber beklagte, dass wir es mit Großmutter teilen mussten. Abend für Abend kamen die Väter meiner Freundinnen schlecht gelaunt und müde von ihrem langen Arbeitstag nach Hause, doch mein Vater traf jeden Freitagabend mit einem Lächeln auf dem Gesicht aus New York ein. Er machte uns Geschenke und lauschte interessiert, wenn wir ihm in allen Einzelheiten schilderten, was wir während seiner Abwesenheit erlebt hatten. Der Freitag war immer wie Weihnachten. Die Eltern einiger meiner Freundinnen redeten kaum miteinander. Obwohl sie in etwa so alt waren wie meine Eltern, wirkten sie doch wesentlich älter. Mutter und Vater waren das

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