Die Fäden des Schicksals
verantwortlich. Vater dagegen war mein Held, was immer er auch getan haben mochte. Zumindest anfangs war ich davon überzeugt, dass wir tatsächlich eine Bilderbuchfamilie gewesen waren und dass meine Mutter mit ihrem Misstrauen und ihrem Gejammer alle Probleme verursacht hatte. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Doch eins steht fest: Nachdem mein Vater gestorben war und uns verarmt zurückgelassen hatte und alle Welt den Grund dafür kannte, verstärkten sich Mutters negative Charakterzüge noch, und sie blieb für den Rest ihres Lebens eine wütende, verbitterte Frau. Ich hasste es, in ihrer Nähe zu sein, und schwor mir, dass ich unter keinen Umständen so werden wollte wie meine Mutter.
Schließlich hielt ich es zu Hause nicht mehr aus, wo ich täglich Mutters bitterem Groll ausgesetzt war. Ich bewarb mich erfolgreich um ein Stipendium für die New Yorker Universität und zog in die Stadt. Dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Susan allein zurückließ, doch ich fuhr fast jedes Wochenende zu ihr nach Hause – im gleichen Turnus wie früher mein Vater.
Nach dem Leben in Winthrop war Manhattan wie eine Erlösung. Ich fühlte mich unabhängig und lebendig in der Stadt, so grenzenlos frei. Damals, Anfang der Sechzigerjahre, befand sich ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung im Aufbruch. Besonders die Jüngeren lösten sich von den überkommenen Beschränkungen und Erwartungen ihrer Eltern. Freiheit war die Losung des Jahrzehnts – freie Rede, ein freies Leben, freie Liebe. Für ein junges Mädchen, frisch aus dem ländlichen Neuengland, war es eine aufregende Zeit.
Bald nachdem ich mit drei weiteren Mädchen in eine winzige Wohnung gezogen war, lernte ich David Collier kennen.
David war sechs Jahre älter als ich und Bildhauer. Ich verliebte mich praktisch auf den ersten Blick in ihn. Mit seinen dunkelbraunen Augen und den breiten Schultern sah David meinem Vater sehr ähnlich, doch er war anders als alle Männer, die ich kannte. Er war geistig unabhängig, gefühlvoll und stets sorglos und vergnügt. Ich betete ihn an. Als er mich fragte, ob ich bei ihm einziehen wolle, warf ich die Arme um seinen Hals und erstickte ihn beinahe mit Küssen.
»Hoppla!«, lachte er. »Das soll wohl Ja heißen.«
»Oh ja! Ja, David! Können wir meine Sachen schon heute Abend holen?«
Er nickte. »Klar, wenn du willst, Abbie. Aber hör mal«, fügte er hinzu, und seine lachenden Augen wurden für einen Augenblick ernst. »Eins musst du wissen. Ich liebe dich, Abbie. Du machst mich so glücklich. Mit niemandem bin ich lieber zusammen als mit dir. Aber ich habe nicht vor, jemals zu heiraten. Ich glaube nämlich nicht an die Ehe. Das ist doch auch nur so ein Schwindel, den sich die Gesellschaft und die Kirche ausgedacht haben, um uns zu unterdrücken. Mit einem Stück Papier würde ich dich nicht mehr lieben, als ich es jetzt schon tue. Außerdem wäre es nicht fair zu erwarten, dass du dich an einen einzigen Mann bindest.« Nun lächelte er wieder. »Ich meine, vielleicht wachst du ja eines Tages auf und stellst fest, dass du mich nicht mehr ausstehen kannst.«
»Oh nein, David! Das wird niemals geschehen! Ich werde dich lieben, solange ich lebe.«
David nickte. »Ich empfinde das Gleiche für dich, Abbie. Aber trotzdem musst du begreifen, dass ich niemals heiraten werde.«
»Ja, das verstehe ich, David«, antwortete ich und küsste ihn noch einmal.
Doch tief in meinem Herzen glaubte ich nicht, dass er es ernst meinte. Ich war davon überzeugt, dass er seine Meinung ändern würde, wenn er erst einmal sah, wie sehr ich ihn liebte und wie glücklich ich ihn machen konnte. Es mochte eine Weile dauern, aber das störte mich nicht. Für mich zählte in diesem Augenblick nur David. Ich brauchte ihn und hätte mich mit allem einverstanden erklärt, nur um bei ihm zu sein.
Fast vier Jahre lang lebten wir in Davids Künstlerloft und fühlten uns auch ohne Trauschein wie Mann und Frau. Tagsüber ging ich in die Vorlesungen, während David in seinem Studio arbeitete, und am Abend eilte ich nach Hause, um das Essen zu kochen. Hinterher besuchten wir dann Gedichtvorträge im Village, spazierten durch den Park oder trafen uns mit einigen von Davids Künstlerfreunden. Jeden Freitagabend fuhren wir in Davids klapprigem Kombi nach Connecticut und verbrachten das Wochenende bei Mutter und Susan. Susan war verrückt nach David. Sie hielt immer am Fenster Ausschau nach uns, so wie ich als
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