Die Fäden des Schicksals
ersten Mal in meinem Leben habe ich richtig Angst. Ich kann gar nicht glauben, dass ich in meinem Alter noch mal von vorn anfangen soll, und ich bin nicht sicher, ob ich es schaffe. Ich fühle mich …« Er hielt das Lenkrad umklammert und suchte mit gesenktem Kopf nach den richtigen Worten. »Haltlos. Das trifft die Sache, glaube ich. Es kommt mir so vor, als triebe ich in einem Boot mitten auf dem Ozean, ohne Segel, ohne Ruder und ohne zu wissen, wo ich bin. Ich weiß nicht einmal mehr genau, wer ich eigentlich bin.«
»Und deswegen bist du gekommen – auf der Suche nach etwas Vertrautem, nach einer Zeit, als du noch wusstest, wer du bist?«
Er nickte. »Es war ein Fehler, Evie. Die Scheidung, meine ich. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Als du an dem Abend damals angerufen hast, stellte ich mir vor, wie mir zumute wäre, wenn dir etwas passierte … Ich glaube, in diesem Augenblick wurde mir erst richtig klar, was ich angerichtet hatte.«
Er wandte sich zu mir um. »Ich hatte sowieso vor herzukommen. Zumindest für die Operation. Ich wollte mich davon überzeugen, dass du alles gut überstanden hättest. Aber als dann alles über mich hereinbrach … Ja, ich bin gekommen, weil ich hoffte, wir könnten es noch einmal miteinander versuchen. Ich möchte, dass alles wieder so wird wie früher.«
Wir redeten lange miteinander, und ich sagte ihm die Wahrheit: dass jetzt alles anders war. Ich hatte mich verändert, und er sich ebenfalls. Durch unser Kind und die gemeinsamen Erinnerungen würden wir immer miteinander verbunden bleiben, aber es gab für uns kein Zurück mehr. Und obwohl ich es Rob nicht sagte, erkannte ich, dass ich auch gar nicht zurück wollte.
Mit leerem Blick starrte Rob gegen die Windschutzscheibe, durch die er bei dem Regen und dem beschlagenen Glas überhaupt nichts sehen konnte. »Das kann ich dir wohl kaum übel nehmen, Evie. Morgen früh packe ich meine Sachen und verschwinde. Aber du sollst wissen, dass ich es ehrlich gemeint habe. Es tut mir alles aufrichtig leid, und ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst.«
»Doch, Rob, ich verzeihe dir«, erwiderte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Weißt du, es war nicht allein deine Schuld. Wir haben beide Fehler gemacht. Mir tut es auch leid.«
»Mag ja sein, aber als die Dinge endgültig aus dem Ruder liefen, war ich es, der zum Anwalt gerannt ist, und nicht du.« Darauf sagte ich nichts.
»Ich wünschte nur, ich könnte es irgendwie wiedergutmachen.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar – eine müde und hilflose Geste. »Es ist schon verrückt, weißt du. Manche Dinge kann man nicht wiedergutmachen, aber wenn du etwas brauchst, Evie, irgendetwas, kannst du mich jederzeit anrufen. Das ist mein Ernst. Ich weiß jetzt, dass es für uns kein Zurück mehr gibt, aber vielleicht gibt es ja etwas Neues. Vielleicht können wir Freunde werden.«
Als ich auf dem dunklen Hof stand und endlich den Schlüssel fand, fragte ich mich, ob Rob und ich Freunde sein könnten. So hatte es schließlich einmal mit uns begonnen. Armer Rob. Trotz allem, was geschehen war, konnte ich ihn nicht leiden sehen. Er wirkte so jämmerlich, wie er da im Regen stand. Wahrscheinlich sah ich auch nicht besser aus, aber nun ja. Seufzend steckte ich den Schlüssel ins Schlüsselloch.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Rob besorgt und legte mir die Hand auf den Arm. »Musst du dich setzen?«
»Nein, schon gut. Ich bin nur ein bisschen müde, das ist alles.«
Das Sicherheitsschloss klickte, als ich den Schlüssel umdrehte. Ich drückte die Tür auf und erschrak bis in die Zehenspitzen, als in der Dunkelheit plötzlich lauter schattenhafte Gestalten hinter dem Ladentisch und den Schränken hervorsprangen und »ÜBERRASCHUNG!« brüllten.
Es war wirklich eine gelungene und ausgesprochen schöne Überraschung. Fast jeder, den ich kannte, war da, und ich staunte, wie viele Leute ich in weniger als zwei Jahren kennengelernt hatte. Außer Garrett, Rob, Abigail, Margot, Liza und Franklin Spaulding waren mindestens ein Dutzend meiner Stammkundinnen gekommen. Dazu die meisten Ladenbesitzer von New Bern und einige Leute, die ich aus der Kirche kannte, wie zum Beispiel der Pfarrer und seine Frau. Ich hatte die beiden näher kennengelernt, als sie mich im Krankenhaus besuchten. Vor dem Büfett am anderen Ende des Raumes stand Charlie. Als ich hereinkam, blickte er auf und lächelte mir zu, dann wandte er sich unvermittelt ab und widmete seine Aufmerksamkeit den
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