Die Fäden des Schicksals
»Ich vermute, angesichts von Miss Burgess’ vorzüglicher Führung im letzten Jahr wird auch die Staatsanwaltschaft voll und ganz damit einverstanden sein, dass die Anklage gegen sie fallen gelassen und jeder Hinweis auf diesen leidigen Vorfall aus den Akten getilgt wird. Diese kleinen Probleme löst man am besten ohne unnötigen bürokratischen Aufwand, finden Sie nicht auch?«
Es war eine rein rhetorische Frage, denn der Richter hatte seinen Entschluss bereits gefasst. Dennoch schien Mr Corey seine Zustimmung nur widerwillig zu geben.
»Ja, Euer Ehren.«
»Ausgezeichnet!«, strahlte der Richter. »Sehr vernünftig von Ihnen. Nun denn …«
Feierlich hob er seinen Richterhammer und ließ ihn einmal kurz niedersausen. »Miss Burgess, Sie können gehen. Gratuliere.«
»Vielen Dank, Euer Ehren.«
»Bitte sehr. Und nun, da Sie nicht länger unter der wachsamen und wohlwollenden Aufsicht Ihrer Tante stehen, wissen Sie schon, was Sie weiterhin mit Ihrem Leben anfangen wollen?« Harry zwinkerte mir zu.
Ich trat einen Schritt vor, bereit, die interessanten Pläne zu erläutern, die ich für Lizas Zukunft gemacht hatte, doch da antwortete Liza bereits selbst.
»Ja, Sir. Ich werde wieder zur Schule gehen.«
Was? Wieso? Das hatte sie aber nicht mit mir abgesprochen.
»Aber dort haben sie dich doch rausgeworfen! Wie kannst du nur wieder zurückwollen?«, warf ich ein. Ihre Eröffnung hatte mich so überrascht, dass ich gar nicht überlegte, was ich da sagte.
Liza warf mir einen gereizten Blick zu. Sie war offensichtlich verärgert über meine Einmischung und die unkluge Erwähnung ihrer gescheiterten akademischen Karriere. »Ich gehe ja gar nicht wieder nach Rhode Island«, zischte sie mit hochroten Wangen. »Schließlich gibt es, wie du weißt, noch andere Kunsthochschulen. In diesem vergangenen Jahr ist mir bewusst geworden, wie gern ich eine Künstlerin sein möchte. Das ist meine Berufung.
Und außerdem weiß ich jetzt, dass ich Talent habe, ganz egal, was meine alten Professoren gesagt haben«, setzte sie hinzu und straffte die Schultern. »Ich muss es allerdings noch weiterentwickeln, und dazu muss ich die richtige Schule finden. Wahrscheinlich in New York. Ich habe mit Evelyn gesprochen, und sie sagt …«
»Evelyn?«, rief ich und ignorierte den Rippenstoß, den Franklin mir versetzte. »Was hat Evelyn damit zu tun? Warum besprichst du das mit ihr?«
Liza legte den Kopf schief und blickte mich fragend an, als hätte sie meine Frage nicht recht verstanden. »Weil Evelyn meine Freundin ist. Darum. Sie kennt mich und hat mich gern und möchte, dass ich glücklich bin. Genau wie du, Abigail.«
Es regnete. In dem vergeblichen Versuch, nicht nass zu werden, drängten wir drei, Liza, Franklin und ich, uns unter dem Dachvorsprung des Gerichtsgebäudes zusammen.
»Selbstverständlich weiß ich, dass du nicht ewig unter meinem Dach wohnen kannst«, sagte ich und dachte dabei an das Haus der Hudsons in unserer Nachbarschaft. »Ich verstehe nur nicht, warum du es so eilig hast wegzukommen. Du könntest doch zur Schule gehen und trotzdem weiter in New Bern leben. Das örtliche College bietet auch Kunstkurse an.«
Liza verdrehte die Augen, und Franklin grinste. Dabei wusste ich selbst, dass das keine Lösung war. Liza war schon viel zu weit fortgeschritten, um bei irgendeinem Teilzeitdozenten in einem Anfängerkurs für Aquarellmalerei zu sitzen. Aber ich klammerte mich an jeden Strohhalm.
Es hatte zwar eine Weile gedauert, und der Weg dorthin war holprig gewesen – genauer gesagt war es eine Straße mit Schlaglöchern, so tief, dass ein Lastwagen darin versinken konnte –, doch im Laufe des vergangen Jahres hatte ich Liza ins Herz geschlossen. Ich hatte sie gern um mich, hörte sie gern beim Nachhausekommen in der Küche hantieren und kam gern in ein Zimmer, in dem sie, ohne mich zu fragen, sämtliche Möbel umgestellt hatte. Und danach zankte ich mich gern deswegen mit ihr. Bevor Liza in mein Leben trat, hatte ich gar nicht gemerkt, wie einsam ich war. Doch so wollte ich nicht wieder leben.
»Abbie«, sagte Franklin, dem die Regentropfen von der Krempe seines Hutes auf die Schuhe tropften, »irgendwann kommt immer der Zeitpunkt, an dem das Küken flügge wird. Du hast ihr durch eine schwierige Phase geholfen, und du hast deine Sache gut gemacht.« Liza nickte ernst. »Aber jetzt ist es Zeit für sie, auf eigenen Füßen zu stehen.«
Jetzt war es an mir, die Augen zu verdrehen. »Welch weise Worte, Franklin.
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