Die Fäden des Schicksals
Frühlingsrollen.
Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis ich mich durch die Menge der Gratulanten hindurchgekämpft hatte, da ich jedem Einzelnen für sein Kommen danken und versichern musste, dass es mir wieder gut ging und die Überraschung wirklich gelungen sei. Doch endlich stand ich vor dem Tisch, an dem sich Charlie mit finsterer Miene mit dem Essen zu schaffen machte.
Charlie gab sich mit seinen Gerichten ebenso viel Mühe wie ich mit meinen Quilts. Er hatte eine genaue Vorstellung davon, wie die Speisen angerichtet werden sollten, und legte äußersten Wert auf frische Zutaten und eine sorgfältige Zubereitung. Wenn nicht alles nach seinen Wünschen lief, war er unglücklich und konnte dann – wie gerade jetzt – seine Missstimmung nicht verbergen.
Ich nahm mir eine Frühlingsrolle, tunkte sie in eine nach Soja, Sesam und Ingwer duftende Sauce und steckte sie in den Mund. Die zarte, goldene Kruste krachte zwischen meinen Zähnen.
»Mmmm, köstlich wie immer.«
Er grunzte nur, ohne aufzublicken, und wischte mit seinem Serviertuch über den Rand der Platte, auf den jemand – vermutlich ich – einen Tropfen Sauce gekleckert hatte.
»Lach doch mal, Charlie«, sagte ich lächelnd und hielt seine Hand fest. »Es sieht alles ganz wunderbar aus. Warum lässt du es nicht gut sein und feierst mit? Garrett sagte etwas von Champagner. Ich hole dir ein Glas. Heute Abend bist du Gast und nicht der Lieferant.«
Die Augen noch immer gesenkt, schüttelte Charlie einmal kurz den Kopf, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen. »Irrtum. Das hat Abigail alles bei mir bestellt.«
»Oh. Na, trotzdem. Es sieht alles toll aus und schmeckt fantastisch. Also lass es jetzt mal gut sein und entspann dich. Ich hole dir etwas zu trinken.«
»Nein, ich kann nicht hierbleiben. Ich bin nur gekommen, um meine Arbeit zu machen und alles schön herzurichten. Aber gleich muss ich wieder zurück und mich um mein Restaurant kümmern.« Mit gerunzelter Stirn spießte er gegrillte Shrimps auf Rosmarinzweige, von denen er teilweise die Nadeln abgestreift hatte und steckte diese dann in einen Styroporkegel. Die Zwischenräume bedeckte er mit weiteren Rosmarinzweigen, bis das Ganze wie ein zurechtgestutztes Kräuterbäumchen aussah.
»Nun komm schon«, sagte ich spöttisch und überlegte, was ihn bedrücken mochte. Charlies Verhalten ging eindeutig über seinen gewöhnlichen Perfektionismus hinaus. Er spießte die Shrimps derart energisch auf die Zweige, dass es schon beinahe grausam wirkte. »Wir haben Mittwochabend in einer absolut toten Jahreszeit, und die Hälfte deiner Stammgäste ist hier auf der Party. Es würde mich wundern, wenn mehr als sechs Gäste im Restaurant säßen. Bleib doch noch ein bisschen, Charlie. Du siehst aus, als könntest du einen netten Abend vertragen«, schmeichelte ich, um seine Laune zu heben.
Er steckte die letzten Zweige in das Rosmarinbäumchen, dann wischte er sich die rechte Hand an einem Tuch ab, streckte sie mir entgegen und sagte: »Es geht nicht. Gute Nacht, Evelyn.«
»Du kannst doch jetzt nicht gehen, Charlie! Die Party hat gerade erst angefangen, und es gibt so viel zu feiern! Ich war heute bei der Ärztin, und weißt du, was sie gesagt hat? Ich brauche keine Chemo! Ist das nicht großartig?«
Zum ersten Mal an diesem Abend sah er mich an. Seine Züge wurden weicher, und seine Augen blickten freundlich, aber betrübt. »Das ist toll, Evelyn. Wirklich. Ich freue mich für dich und bin so froh, dass es dir wieder besser geht. Aber jetzt muss ich wirklich los.« Nach einem kurzen Händedruck wandte er sich zum Gehen und verschwand in der Menge der Gäste.
»He!«, rief ich ihm nach. »Morgen früh gehe ich wieder zur Arbeit. Sollen wir uns vorher auf einen Kaffee im Bean treffen?«
Er antwortete nicht, sondern schlug nur den Kragen seines Mantels hoch und ging hinaus. Das Klingeln der Türglocke mischte sich unter das Gelächter der Gäste.
Da trat Abigail zu mir an den Tisch, nahm sich ein Lachsröllchen von der Platte und knabberte zierlich daran herum. Sie lächelte entspannt und sprach ein ganz klein wenig lauter als sonst. Offensichtlich hatte Garrett schon den Champagner herumgereicht.
»Hast du schon eins davon probiert?«, fragte sie. »Die mag ich am liebsten. Charlie ist ein Genie.«
»Das stimmt. Schwierig, aber ein Genie.«
»Na, dann passt er ja ausgezeichnet zu uns, nicht?« Abigail lachte über ihren eigenen Scherz, doch als ich nicht reagierte, zog sie besorgt die
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