Die Fäden des Schicksals
Sache. Diese Funktion, bei der man sieht, wer am Telefon ist, und sich dann entscheiden kann, ob man mit dem Anrufer reden möchte oder nicht, das ist eine Erfindung ganz nach meinem Geschmack.
Natürlich hat auch die Technik ihre Grenzen. So kann es durchaus passieren, dass man zwar gern mit dem Anrufer sprechen möchte, allerdings nicht über jedes Thema. Wenn es dafür auch eine Erkennung gäbe, hätte ich an jenem Morgen den Hörer wohl kaum abgenommen. Doch als ich auf dem Display Franklins Namen sah, ging ich eben ran. Ich dachte, er wollte mit mir über die Geburtstagsparty reden.
»Franklin, du bist ein Schatz! Vielen herzlichen Dank! Du hättest dir nicht so viel Arbeit zu machen brauchen, aber es war ein wunderbarer Geburtstag. Ich habe mich blendend amüsiert, und alle anderen ebenfalls, meinst du nicht auch?«
»Doch, Abbie. Es war eine tolle Party.« Seine Stimme klang abwesend, aber ich dachte mir nichts dabei. Franklin ist einer der Gründungspartner von Spaulding, Ketchum und Ryan, der größten Anwaltskanzlei in der ganzen County. Da er während der Geschäftsstunden anrief, ging ich davon aus, dass er wie immer seine Arbeit im Kopf hatte. Er ist ein sehr guter und gewissenhafter Anwalt. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mir um meine Geldangelegenheiten keine Sorgen zu machen brauche und alles getrost Franklin überlassen kann.
»Ja, und das ist dein Verdienst«, erwiderte ich. »Ich hätte dich später noch angerufen, aber du bist mir zuvorgekommen. Hast du Lust, heute Abend mit mir im Club zu essen?« Nachdem Franklin die gesamte Feier auf die Beine gestellt hatte, war eine Einladung zum Essen das Mindeste, was ich tun konnte, um mich zu revanchieren. Und außerdem gehe ich gern mit Franklin essen. Er bringt mich zum Lachen.
»Ja. Ja, gut«, sagte er, doch seine Stimme klang so besorgt, dass ich nicht sicher war, ob er mir überhaupt zugehört hatte. »Hör mal, Abbie, ich bin gerade in der Stadt … genauer gesagt im städtischen Gefängnis, und du musst unbedingt herkommen. Wir haben ein Problem.«
Ich bekam einen Schreck. »Franklin! Haben sie dich etwa eingesperrt?«
»Nein, nein, Abbie. Mich nicht. Es geht um Liza.«
Ich antwortete nicht.
Er räusperte sich und fuhr vorsichtig fort: »Tut mir leid, ich wollte nicht … Ich weiß, dass ihr euch nie persönlich begegnet seid, daher …«
»Franklin«, unterbrach ich ihn. »Du sagtest, wir hätten ein Problem. Worum geht es?«
»Wie ich schon sagte, ist Liza im Gefängnis. Sie wurde wegen Ladendiebstahls verhaftet und muss um halb elf vor dem Richter erscheinen.«
»Und warum ist das mein Problem?«
»Mein Gott, Abigail!« Er ließ alle Vorsicht beiseite. »Schließlich ist sie deine Nichte, deine einzige lebende Verwandte! Seit ihre Mutter tot ist, hat sie niemanden auf der Welt außer dir, Abbie. Du musst ihr helfen.«
Jetzt nahm auch ich kein Blatt mehr vor den Mund. »Das muss ich keineswegs, Franklin. Dieses Mädchen mag ja meine Nichte sein, aber das ist lediglich ein biologischer Zufall. Ich hatte bisher nichts mit ihr zu schaffen, und ich sehe nicht ein, warum sich durch ihre Verhaftung daran etwas ändern sollte. Ich bin nicht für sie verantwortlich. Schließlich habe ich nichts gestohlen, also verstehe ich nicht, was mich das alles angeht.«
»Ach, tatsächlich? Was hältst du von diesem Szenario: In genau einundvierzig Minuten wird deine Nichte, Liza Burgess, vor dem Richter stehen, weil sie in einer hiesigen Boutique einen Pullover geklaut hat – für den sie übrigens genügend Geld im Portemonnaie gehabt hätte –, und fünf Minuten später wird irgend so ein eifriger Nachwuchsreporter, der in New Bern für die Polizeimeldungen zuständig ist, darauf kommen, dass ihr beide verwandt seid. Und dann rast er zurück an seinen Schreibtisch und zimmert eine Story darüber zusammen, dass sich die arme, verwaiste Tochter von Abigail Burgess Wynnes verstorbener Schwester Susan mit Ladendiebstählen über Wasser halten muss, während ihre Tante, die sechstreichste Frau im Staat, in ihrer Villa an der Proctor Street dem Luxus frönt. Bilder wird es natürlich auch geben, wahrscheinlich das von dir aus dem Archiv, wo du der Bücherei die Spende übergibst, und eines von Liza, wie sie in Handschellen abgeführt wird. Das ist Stoff für die Titelseite, Abbie, und jeder im Ort wird es lesen. Aber das ist erst der Anfang.
Irgendein anderer Reporter, der viel mehr auf dem Kasten hat als der Knabe aus New Bern – jemand
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