Die Fäden des Schicksals
und Einwickelpapier, wie ein armer, kranker Vogel, den sein Schwarm zurückgelassen hatte, überkam mich plötzlich eine tiefe Traurigkeit und Einsamkeit. Ich war so müde. Ich konnte das einfach nicht mehr länger allein durchstehen. Ich musste mit jemandem reden.
Mit einem zerknüllten Stück Küchenrolle vom Fußboden tupfte ich mir Augen und Nase ab, bevor ich nach dem Telefon griff. Zuerst wollte ich Margot anrufen, doch dann fiel mir ein, dass sie Chorprobe hatte. Daraufhin versuchte ich es bei Garrett, zunächst im Büro und dann auf seinem Handy, doch er ging nicht ans Telefon. Also hinterließ ich ihm eine Nachricht.
»Hallo, Schatz. Ich bin’s, Mom. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich habe dir ein Päckchen mit Geschenken geschickt. Es müsste eigentlich schon angekommen sein, aber du darfst sie erst an Weihnachten auspacken, sonst ist es ja keine Überraschung mehr.« Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich weitersprach. »Äh, hör mal, Schatz. Ruf mich doch bitte an, wenn du kannst. Ich muss mit dir über etwas reden. Okay? Aber jetzt mache ich Schluss. Ich hoffe, du amüsierst dich gut. Du fehlst mir. Ich habe dich lieb. Tschüss.«
Als ich auflegte, fühlte ich mich noch elender als zuvor. Nachdem ich mir erst einmal eingestanden hatte, dass ich mit jemandem reden musste, wurde ich den Gedanken einfach nicht mehr los. Es musste jemand sein, der mir etwas bedeutete und dem ich etwas bedeutete. Im Augenblick gab es davon nicht viele auf meiner Liste, und die waren alle nicht zu erreichen. Doch plötzlich fiel mir etwas ein.
Was ich jetzt unbedingt brauchte, war der honigsüße texanische Tonfall, dunkel und sämig wie Sirup, und dazu das Lachen, das perlt, als würde man Dr. Pepper in ein hohes Glas gießen. Erneut nahm ich das Telefon zur Hand und wählte die Nummer von Mary Dell.
Eine tiefe Männerstimme meldete sich. Der Sprecher war bemüht, die Worte langsam und deutlich auszusprechen: »Templeton Residence. Howard am Apparat.«
»Hey, Howard.« Der in Texas übliche freundlich-lässige Gruß kam mir wie selbstverständlich über die Lippen. »Hier ist Evelyn Dixon. Wir haben schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Wie geht’s dir? Ist deine Mama in der Nähe?«
»Hallo, Evelyn. Mir geht’s gut. Mama und ich kommen ins Fernsehen. Da ist Mama. Es war schön, mit dir zu reden. Frohe Weihnachten.«
Bevor ich noch eine Frage stellen konnte, kam Mary Dell schon ans Telefon.
»Hallo, Baby!«, flötete sie überschwänglich. »Wie geht’s dir? Frohe Weihnachten! Ich wollte schon die ganze Zeit über anrufen, aber wir waren so mit der ganzen Büchergeschichte und allem beschäftigt. Du würdest es nicht für möglich halten. Es ist komisch, aber gerade vor einer Viertelstunde habe ich zu Howard gesagt, dass ich dich anrufen muss. Aber weil ich dachte, du wärst heute, am Samstagabend, nicht zu Hause, wollte ich es morgen Nachmittag probieren. Ist das nicht ulkig? Dir müssen doch die Ohren geklingelt haben! Wie geht es dir so?«, fragte sie noch einmal. Sie klang so vergnügt, und ich war so froh, ihre Stimme zu hören, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie gleich mit meinen Sorgen zu überfallen.
»Ach, ganz gut. Was hat Howard da gesagt? Ihr beide kommt ins Fernsehen?«
Sie lachte laut auf. »Ja! Evelyn, mein Schatz, kannst du dir das vorstellen? Deswegen hatte ich ja keine Zeit anzurufen. Ich bin so beschäftigt wie ein Hund voller Flöhe!« Wieder klang ihr fröhliches Gelächter aus dem Hörer.
»Mary Dell, wovon sprichst du überhaupt? Ich verstehe nicht.«
»Oh, ich dachte, Howard hätte es dir schon erzählt. Halt dich fest, Evelyn. Irgendjemand vom Verlag hat bei der Sendung Heim und Herd angerufen und ihnen von unserem Buch berichtet! Und plötzlich taucht so ein kleines mageres Ding, das sich Produktionsassistentin schimpft, bei uns zu Hause auf. Sie hat einen Kameramann dabei und sagt, sie will Probeaufnahmen machen.«
»Ach du lieber Himmel, Mary Dell!« Ich schlug die Hand vor den Mund; meine eigenen Probleme waren vergessen. Ich hatte so eine Idee, wie es weiterging, auch wenn ich es kaum glauben konnte.
»Na ja, zuerst dachte ich, es wäre ein Jux oder so. Ich bat die beiden also herein, setzte ihnen Kaffee und Bananenpudding vor und ließ sie Howard und mich filmen, während wir im Nähzimmer an einem Kaleidoskopquilt arbeiteten.
Dann gingen sie, und erst vor ungefähr einem Monat hörte ich wieder von dem kleinen dünnen Mädchen. Ihr Name ist Heather, und sie
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