Die Fäden des Schicksals
wollte. »Nein, lass uns nicht darüber streiten. Du nimmst ihn, und fertig. Aber freu dich nicht zu früh. Ich versichere dir, der Betrag hat nur sehr wenige Nullen. Es wäre schön, wenn es anders wäre, aber du hast vollkommen recht; ich kann es mir nicht leisten.«
»Wer hat denn dann das Geld überwiesen? Ich kann es nicht annehmen. Es ist viel zu viel.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Schließlich ist Weihnachten. Glaubst du vielleicht nicht mehr an den Weihnachtsmann?«
»Nein!«, rief Margot und begann wieder zu schluchzen.
Evelyn kam hinter dem Ladentisch hervor und legte den Arm um Margots Schultern. »Nun komm schon«, sagte sie beschwichtigend. »Du bist seit Monaten arbeitslos. Da kannst du das Geld doch wahrhaftig gebrauchen. Vielleicht weiß Gott es ja wirklich. Vielleicht läuft hier in New Bern ja auch ein Engel für dich herum. So wie du für mich ein Engel warst.«
»Oh, Evelyn. Du warst es! Ich weiß es genau!«, schluchzte Margot.
Ihr Gesicht hatte einen unansehnlichen Rotton angenommen und wirkte fleckig. Sehen Sie, das ist auch ein Grund, warum man Gefühlsausbrüche vermeiden sollte. Sie machen hässlich.
Ich nahm meine Sachen und warf Evelyn einen fragenden Blick zu. Dieses ganze Theater wurde mir unbehaglich. Evelyn bedeutete mir mit einem Kopfnicken, dass ich ruhig gehen sollte. Sie wusste, wie ich derartige Szenen hasste.
»Wirklich, Margot, ich war es nicht. Das schwöre ich«, versicherte Evelyn noch einmal und tätschelte Margots bebende Schultern. »Warum weinst du denn? Das ist doch eine gute Nachricht. Wieso bist du dann so traurig?«
»Ich bin nicht traurig!«, heulte Margot. »Ich bin schrecklich glücklich. Und erleichtert! Ich muss genau viertausenddreihundertachtzig Dollar an Rechnungen bezahlen und habe mir den Kopf zerbrochen, wie ich das machen soll. Und jetzt das! Wer auch immer mir das Geld überwiesen hat, wusste genau, wie viel ich brauchte, und gab mir dann noch tausend Dollar extra. Wie konnte das jemand wissen? Wenn du es nicht warst, Evelyn, wer dann?« Margot fiel Evelyn um den Hals und wurde von einem erneuten Weinkrampf geschüttelt.
Hinter Margots Rücken verdrehte ich die Augen, was Evelyn mit einem tadelnden Blick quittierte, und winkte zum Abschied. »Ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät zum Friseur«, sagte ich.
»Und unsere Quiltrunde am Freitag?«, fragte Evelyn, die noch immer die weinende Margot tröstete. »Es ist zwar Heiligabend, aber ihr kommt doch trotzdem, oder?«
»Ich werde da sein. Lieber verbringe ich den Abend mit der Gruppe als allein mit Liza. So könnt ihr wenigstens unsere Streitereien schlichten.«
Grinsend erwiderte Evelyn mein Winken, bevor sie fortfuhr, Margot den Rücken zu tätscheln. Sie wusste, dass sich das Verhältnis zwischen Liza und mir beträchtlich gebessert hatte, auch wenn wir noch immer nicht in familiärer Harmonie schwelgten. Seit sie im Quiltladen mithalf, hatte sich Lizas Laune gehoben. Ich nehme an, jeder fühlt sich wohler, wenn er eine Aufgabe hat. Ihre Weihnachtsdekoration im Schaufenster war wirklich ganz reizend. Auch wenn ich einige ihrer Kunstwerke noch immer, gelinde gesagt, ausgefallen fand, musste ich doch zugeben, dass sie Talent besaß. Vielleicht sollte sie einen zweiten Anlauf an der Kunsthochschule machen, sobald ihr Zwangsaufenthalt hier beendet war. Ich nahm mir vor, sie nach den Feiertagen darauf anzusprechen.
Auf dem Weg zur Tür kam ich an dem Tisch vorüber, auf den Margot die Aktenordner mit den Unterlagen für Einnahmen, Ausgaben, Inventar und Steuern gelegt hatte. Auf einem stand »Margot privat«.
Jeder Neugierige hätte mit einem Blick in den Ordner herausfinden können, wie es um Margots finanzielle Situation bestellt war, seit sie ihre Arbeit verloren hatte. Doch im Grunde genommen wäre das nicht einmal nötig gewesen. So gewissenhaft Margot auch bei ihrer Arbeit war, hatte sie doch die schlechte Angewohnheit, ihre persönlichen Unterlagen offen auf dem Tisch herumliegen zu lassen, wo jeder sie sehen konnte.
21
Evelyn Dixon
Da ich an diesem schrecklichen Samstagabend weder Garrett erreichen noch offen mit Mary Dell sprechen konnte, rief ich schließlich Dr. Finney an.
Sie hatte mir zwar versichert, ich könne sie jederzeit anrufen, dennoch belästigte ich sie nur äußerst ungern zu Hause. Doch ich musste unbedingt mit jemandem reden, der verstand, wie mir zumute war.
Fast eine Stunde lang sprachen wir über alles, was mir Angst machte, nicht nur über den
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