Die Fäden des Schicksals
Krebs, sondern ganz allgemein über die Zukunft meines Geschäfts, darüber, was aus mir werden sollte, wenn ich den Laden schließen musste oder wenn die Operation misslang; wie Garrett auf die Neuigkeiten reagieren würde; über die Möglichkeit, dass ich vielleicht den Rest meines Lebens allein verbringen musste und nie wieder begehrenswert sein oder Sex haben würde. Über all das und besonders über meine Angst – nein, besser gesagt die Gewissheit –, dass ich nicht länger über mein Leben bestimmen konnte.
Wir redeten und hörten einander zu, weinten und lachten zusammen. Und das half mir. Zwar änderte sich dadurch nichts, doch es war eine Erleichterung, sich einmal richtig auszusprechen.
Ein Satz von ihr blieb mir besonders im Gedächtnis: Ich mochte vielleicht nicht über die Krankheit bestimmen können, doch wie ich mich dazu stellte, hatte ich durchaus in der Hand – ich konnte Opfer oder Sieger sein. Das lag bei mir. »Eines weiß ich aus Erfahrung«, sagte Dr. Finney. »Es ist wesentlich leichter, Sieger zu bleiben, wenn man nicht allein kämpfen muss. Napoleon ist auch nicht mutterseelenallein in die Schlacht gezogen. Er hatte Unterstützung.«
»Napoleon wurde am Ende besiegt, gefangen genommen und auf eine winzige Insel im Atlantik verbannt.«
Sie lachte. »Na gut, das war vielleicht ein schlechtes Beispiel, aber Sie wissen schon, was ich meine. Sie müssen mit ihren Freunden und Verwandten sprechen, Evelyn. Ich weiß, Sie wollten damit bis nach den Feiertagen warten, aber ich finde, sie sollten es ihnen jetzt gleich erzählen. Natürlich müssen Sie das selbst entscheiden, aber überlegen Sie mal, wie Sie sich fühlen würden, wenn es andersherum wäre. Was wäre, wenn jemand, den Sie mögen, Krebs hätte und es Ihnen verheimlichte?«
Ich verstand, was sie meinte. Margot, Abigail, Liza und auch Charlie – es war nicht recht, es ihnen noch länger zu verschweigen. Ich wollte ihnen die Wahrheit sagen, und zwar allen auf einmal bei unserem wöchentlichen Quilt-treffen, damit ich es hinter mir hatte. Charlie sollte für diesen Abend als Ehrengast eingeladen werden. Ich setzte mich an den Schreibtisch, legte eine Liste mit Fragen an, die sie mir vielleicht stellen würden, und überlegte mir meine Antworten. Ich wollte vorbereitet sein, damit ich es ihnen in meinen eigenen Worten berichten konnte – ruhig, vernünftig und voller Zuversicht. Es würde eine gute Übung für mein Gespräch mit Garrett sein. Denn das stand als Nächstes an.
Ich wollte es ihm nicht am Telefon erzählen. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, zu ihm nach Seattle zu fliegen, doch eine kurzer Blick ins Internet zeigte mir, dass es jetzt, so kurz vor Weihnachten, keine erschwinglichen Flüge mehr gab. Also beschloss ich, ihn gleich nachdem ich es den anderen mitgeteilt hatte, anzurufen. Hoffentlich erreichte ich ihn zu Hause, denn ich wollte nicht, dass andere Leute dabei waren, wenn er es erfuhr.
Doch es lief nicht ganz wie geplant. An Heiligabend, als ich gerade damit beschäftigt war, einen Preiselbeerkuchen und Glühwein zu machen – damit wollte ich am späten Nachmittag meine Gäste bewirten –, klingelte das Telefon. Es war Garrett.
»Hallo, mein Schatz!«
»Hallo, Mom! Rate mal, wo ich bin. Ich bin gerade auf dem Flughafen Hartford gelandet und will mir jetzt einen Wagen mieten. Auf der Weihnachtsfeier meiner Firma bekamen alle Angestellten einen Bonusscheck. Da war ich nämlich gerade, als du anriefst. Als ich deine Nachricht hörte, beschloss ich, meinen Bonus für ein Flugticket auszugeben. Schick also besser deine sämtlichen Herrenbekanntschaften nach Hause und mach mir das Schlafsofa zurecht. Ich komme auf Weihnachtsbesuch!«
Eine Stunde später lagen wir uns in den Armen. Ich weinte vor Freude, ihn wiederzusehen, und meine ganzen wohlüberlegten Pläne lösten sich in Luft auf. Noch bevor er seine Sachen auspacken konnte, musste er sich hinsetzen, und ich berichtete ihm auf der Stelle alles, was seit meiner Ankunft in New Bern geschehen war. Es ging nicht anders, da die übrigen Gäste in einer knappen Stunde kommen würden und ich mit Garrett allein sprechen wollte.
Obwohl ich keine Gelegenheit gehabt hatte, meine Ansprache in der Quiltrunde zu proben, brachte ich sie ohne Tränen hinter mich. Als das Wort »Krebs« fiel, riss er die Augen auf, doch er fing sich rasch wieder und stellte mir ruhig und sachlich einige Fragen. Doch als ich meine erste OP erwähnte, verlor er beinahe die
Weitere Kostenlose Bücher