Die Fäden des Schicksals
sanftere Abigail ans Licht drängte. Jetzt war sie offenbar zum Vorschein gekommen. So schmerzhaft die gegenwärtige Krise auch sein mochte, vielleicht war Abigails Erkenntnis, wie viel Kummer sie anderen bereitet hatte, das einzige Mittel, um die verhärtete Schale zu zertrümmern und die wahre Abigail – und mit ihr auch Liza – zu befreien. Das würde die Zeit erweisen.
»Ich rannte so schnell ich konnte«, schniefte Abigail betrübt, »aber sie war schon fort. Da beschloss ich, Margot anzurufen. Aber dich wollte ich damit nicht belasten, Evelyn. Du hast schon genug Sorgen.«
Margot sprach das aus, was ich dachte: »Aber natürlich musste ich Evelyn benachrichtigen. Sie mag dich doch genauso gern wie ich. Und wir alle mögen Liza.«
»Ich weiß«, nickte Abigail und fügte leise hinzu: »Ich auch.
Ich bin bisher nicht besonders gut zu ihr gewesen, aber ich mag sie trotzdem. Wenn sie nur wieder nach Hause kommt, dann würde mir schon etwas einfallen, wie ich sie davon überzeugen kann.«
Ich war froh über eine Spur der alten Entschlossenheit in Abigails Stimme. Wenn sich Abigail etwas vorgenommen hatte, dann schaffte sie es auch. Auch wenn das unser vordringliches Problem nicht löste, wie Abigail sehr wohl wusste.
»Aber was ist, wenn sie nicht wiederkommt? Ich mache mir solche Sorgen um sie. Wenn nun Richter Gulden anruft und sich nach ihr erkundigt, oder wenn sie wieder Dummheiten macht und von der Polizei geschnappt wird? Dann wandert sie ins Gefängnis. Beim letzten Mal konnte ich ihr mit meinen Beziehungen helfen, doch noch einmal wäre der Richter bestimmt nicht so nachsichtig. Es wird schon dunkel, und außerdem ist es kalt. Sie ist so schnell weggelaufen, dass sie sogar ihre Handtasche vergessen hat. Bestimmt hat sie nicht einmal Geld dabei.« Abigail ließ den Kopf in die Hände sinken.
»Das ist alles meine Schuld«, sagte sie mindestens zum zehnten Mal an diesem Nachmittag. »Ich habe mich abscheulich benommen. Wenn ich mir doch bloß die Zeit genommen hätte, mit ihr zu reden und ihr alles zu erklären. Als sie von hier weglief, war sie völlig aufgelöst. Was ist, wenn sie nun etwas Verrücktes anstellt?«, fügte Abigail hinzu, und ich wusste, dass sie nicht etwas vergleichsweise Harmloses wie einen Ladendiebstahl meinte, der eigentlich ein Hilfe-schrei gewesen war. Abigail befürchtete, Liza könnte in ihrer Verzweiflung etwas Unwiderrufliches tun. »Und wenn sie nun …«
»Nein«, erwiderte ich entschieden und stand auf. »Das würde Liza nicht tun. Niemals.«
Ich griff nach meiner Handtasche und den Autoschlüsseln, die ich auf die Arbeitsplatte gelegt hatte. »Los, gehen wir.«
»Wohin?«, fragte Abigail. Mit großen Augen sah sie zu, wie ich mir die Jacke anzog. »Evelyn, wir können nicht zur Polizei gehen und Liza als vermisst melden! Ich habe dir doch gesagt, wenn sie es herausbekommen, muss sie ins Gefängnis.«
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Wir müssen sie finden. Sie ist zu Fuß und hat kein Geld dabei. So kommt sie nicht weit.«
Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke zu und schlug vor: »Margot, du und Abigail, ihr geht zusammen los. Fangt im Ostteil der Stadt an, ich nehme die Westseite. Wenn wir uns aufteilen, schaffen wir mehr.«
26
Abigail Burgess Wynne
Wie Evelyn vorgeschlagen hatte, begannen Margot und ich im Osten der Stadt mit der Suche. Wir saßen sehr beengt in ihrem Volkswagen, doch ich war froh, dass Margot uns chauffierte. Mit zunehmendem Alter fuhr ich nicht mehr gern in der Dämmerung. Außerdem hätte ich mich, verzweifelt, wie ich war, vermutlich nicht richtig aufs Fahren konzentrieren können. Daher war es wahrscheinlich so am besten. Da Margot noch nicht lange in New Bern lebte, musste ich sie dirigieren. Wir bildeten ein gutes Team.
Margot sprach mir Mut zu. Wie Evelyn war auch sie sicher, dass wir Liza, die Hals über Kopf und ohne Geld weggelaufen war, bald finden würden. Immerhin war sie erst wenige Stunden fort, und bei der Kälte und dem Schnee kam sie bestimmt nicht schnell voran. Daher konnte es durchaus sein, dass sie sich noch in einem Umkreis von weniger als zehn Kilometern aufhielt. Hoch aufgerichtet saß ich da und hielt auf Straßen und Bürgersteigen Ausschau nach Liza. Hin und wieder sagte ich Margot, wie sie fahren sollte, und lauerte zugleich auf das Klingeln ihres Handys. Evelyn und Margot hatten vereinbart, dass sie einander sofort anrufen wollten, sobald eine von ihnen Liza entdeckt hatte.
Doch als die Minuten zu Stunden
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