Die Fäden des Schicksals
gestorben war. Es war erschreckend. Als sie das Thema anschnitt, schaute Abigail mich besorgt an, um zu sehen, wie ich es aufnahm. Mit einiger Anstrengung bat ich sie weiterzusprechen. Hier ging es ja schließlich nicht um mich, sagte ich mir, sondern um Liza und Abigail.
Auf eine merkwürdige Art und Weise erleichterte mich diese Erkenntnis. Nachdem sich alle seit so vielen Wochen und Monaten um mich bemüht, sich um meine Bedürfnisse, meine Gesundheit, meine Ängste gesorgt hatten, erschien es mir … nun ja, nicht gerade angenehm, doch irgendwie richtig, dass ich mir jetzt Gedanken um jemand anderen machte. »Erzähl weiter«, sagte ich auf Abigails besorgten Blick hin. »Es ist schon in Ordnung. Was passierte dann?«
Sie berichtete uns, wie das Gericht Liza in ihre Obhut gegeben hatte, über die wachsende Spannung zwischen den beiden Frauen seit dem Tag, als ich meine bevorstehende Mastektomie erwähnt hatte, und schließlich von ihrer Auseinandersetzung. Es tat mir in der Seele weh, als ich hörte, was Liza ihrer Tante alles an den Kopf geworfen hatte.
Lizas Gesellschaft war nicht immer erfreulich – das Mädchen konnte sogar ausgesprochen unangenehm sein –, dennoch war sie nicht absichtlich grausam. Mir war immer klar gewesen, dass der Tod ihrer Mutter sie sehr getroffen hatte, doch wie stark sie darunter litt, hätte ich mir nicht träumen lassen. Wie schlimm musste es für sie sein, dass ich an derselben Krankheit litt, an der vor nicht allzu langer Zeit ihre eigene Mutter gestorben war. Viele Leute an Lizas Stelle wären mir aus dem Weg gegangen, doch nicht Liza. Sie hatte versucht, mir auf jede erdenkliche Art zu helfen, auch wenn es ihr bestimmt schwergefallen war. Besonders, als Abigail ihre Beziehungen spielen ließ, um mir die ärztliche Behandlung zu verschaffen, die, Lizas Ansicht nach, ihrer Mutter vielleicht das Leben gerettet hätte. Abigail berichtete uns, dass Susans Krebs erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium entdeckt worden war, als kein Arzt mehr etwas für sie tun konnte. Dennoch konnte man es Liza nicht verdenken, dass sie sich an jeden Strohhalm geklammert und auf ein Wunder gehofft hatte, das ihre Mutter retten würde. Und dass sie es jemandem anlasten musste, als dieses Wunder nicht eintrat. Da bot sich Abigail als Sündenbock geradezu an.
Das arme Mädchen. Sie war viel netter, als ich jemals gedacht hätte, und viel stärker. Doch selbst ein starker Mensch brach irgendwann unter der Last seines geheimen Kummers zusammen. Als sie erfuhr, dass meine erste OP nicht erfolgreich gewesen war und der Krebs ihr möglicherweise erneut jemanden rauben würde, der ihr nahestand, kamen alle Angst und Trauer, die sie so mühsam verdrängt hatte, an die Oberfläche. Gott allein wusste, was Liza durchmachte.
Abigail erging es nicht viel besser. Wie gesagt gab es vieles, was ich an Abigail bewunderte, ohne jedoch blind für ihre Fehler zu sein. Das dachte ich zumindest. Doch als ich von dem Bruch zwischen ihr und ihrer Schwester hörte und sie unter Tränen eingestand, dass sie Susan noch nicht einmal beigestanden hatte, nachdem sie von deren Erkrankung erfuhr, war ich geschockt. Sicher, sie hatte die Behandlung ihrer Schwester bezahlt, sich regelmäßig von ihrem Anwalt Franklin Spaulding über das Wohlergehen von Susan und Liza Bericht erstatten lassen und finanziell – und später auch persönlich – die Verantwortung für Liza übernommen. Aber dennoch!
Für jemanden wie Abigail war es das Einfachste auf der Welt, einen Scheck auszustellen. Als würde man einem Bettler eine Münze zuwerfen, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen – eher aus dem Bestreben heraus, sich ein gutes Gewissen zu erkaufen, als aus echtem Mitgefühl. Wie brachte sie es nur fertig, die Gefühle ihrer Nichte derart zu missachten? Wie konnte sie nur so kaltherzig sein, wo sie doch Lizas Geschichte kannte?
In diesem Augenblick hätte ich ihr am liebsten eine heruntergehauen. Doch als ich sie so ansah, wie sie gebeugt dasaß und weinte, weil es ihr so schrecklich schwerfiel, ihre Fehler Fremden gegenüber einzugestehen, war meine Wut verraucht. Es stimmte wirklich. Die Abigail Burgess Wynne, die jetzt neben mir saß, war nicht mehr dieselbe Frau, die man vor vielen Monaten in meinen Laden geschleift hatte. Irgendwann im Laufe der Zeit hatte sie sich verändert. Oder zumindest hatte sie damit begonnen. Ich hatte schon immer den Verdacht gehegt, dass irgendwo unter dieser harten, stolzen Schale eine
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