Die Fäden des Schicksals
keine Grube auch nur annähernd so tief ist wie die Liebe und die Vergebung Gottes.«
Margot meinte es nur gut, aber insgeheim verdrehte ich die Augen angesichts dieser Binsenweisheit. Sicher, für Leute wie Margot und ihre Mutter, die vermutlich noch nicht einmal bei Rot über die Straße gehen würden, war das leicht gesagt. Sie konnten wohl kaum verstehen, worum es hier ging – Jahre um Jahre, geprägt von Egoismus, Verrat und Betrug. Und dabei dachte ich nicht nur an mich. Lügen und Doppelzüngigkeit hatten einen festen Platz in unserer Familiengeschichte. Dagegen wirkte Margots Familie bestimmt wie aus dem Bilderbuch, dachte ich seufzend. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sprach Margot weiter.
»Ich weiß ja nicht genau, was zwischen dir und deiner Schwester vorgefallen ist, Abigail, und das brauche ich auch nicht zu wissen. Wenn ich die ganze Geschichte kennen würde, käme ich vielleicht wirklich zu der Überzeugung, dass ihr beide unverzeihlich gehandelt habt, aber glücklicherweise brauche ich ja niemandem zu verzeihen. Hier geht es nicht um eine Angelegenheit zwischen dir und mir, und noch nicht einmal zwischen dir und Susan, sondern ausschließlich zwischen dir und Gott. Wenn wir uns gegen einen anderen Menschen versündigen, tun wir nicht nur ihm Unrecht, sondern – was noch viel schlimmer ist – auch Gott. Susan mag ja deinen Zorn verdient haben, Gott jedoch nie und nimmer.«
Sie hielt an einer Kreuzung an und blickte nach links und rechts. Dann sprach sie weiter, ohne den Blick von der Straße zu wenden: »Es ist doch so, dass wir alle irgendwann einmal im Leben in einer tiefen Grube sitzen. Manche schaffen es, wieder herauszuklettern, andere nicht. Diejenigen, die es schafften, hatten erkannt, dass sie Hilfe brauchten, ergriffen dankbar das rettende Seil und vertrauten darauf, dass es halten würde.«
Ich dachte einen Augenblick schweigend nach. Als ich Margot kennenlernte, war sie stets heiter und fröhlich gewesen. Ehrlich gesagt hatte ich sie nicht für besonders helle gehalten. Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber so war es nun einmal. Die meisten der klugen Intellektuellen, die ich kannte, waren mürrisch und missmutig und jammerten unablässig über den beklagenswerten Zustand der Welt und darüber, dass alles in unserem Land – von der politischen Diskussion bis hin zu den Musicals – immer dämlicher würde. Zu allem und jedem hatten sie eine Meinung, aber es kam nicht oft vor, dass einer von ihnen wirklich etwas tat, statt nur zu jammern. Ihrer Ansicht nach war die Welt schlecht und wurde immer noch schlechter, und jeder, der glaubte, dass man etwas daran ändern könnte, war ein Idiot.
Margot hingegen war ein Mensch, der bei einem anstehenden Problem immer sofort nach einer Lösung suchte. Und sie auch fand, wie ich häufig festgestellt hatte. Trotz ihres lieben Wesens und des mädchenhaften Kicherns war Margot ein sehr intelligenter Mensch. Meine griesgrämigen Philosophenfreunde dagegen, dieser Hoffnungslosigkeit verbreitende griechische Tragödienchor, hätten sich über Margots schlichte Worte nur lustig gemacht, doch auf die Frage, wie sie denn jemandem aus der Grube heraushelfen würden, wäre von ihnen mit Sicherheit nur ein nachdenkliches Kopfnicken gekommen und die scharfsinnige Bemerkung, dass es eine komplizierte Angelegenheit sei. Margot war eine kluge Frau, die, im Gegensatz zu mir, offenbar ihren Frieden gefunden hatte. Doch eine komplizierte Angelegenheit war es tatsächlich.
»Ich weiß ja, dass du es gut meinst, Margot, aber bei dir klingt es einfacher, als es ist. Die ganze Sache begann bereits vor Lizas Geburt. Selbst du warst damals noch nicht auf der Welt. Es ist alles schon so lange her, und seitdem ist so viel geschehen. Ich wüsste gar nicht mehr, wie ich anfangen sollte, es wieder gutzumachen.«
»Aber sicher weißt du es, Evelyn. Dein Pfarrer hat doch erklärt, womit man anfangen muss – mit Vergebung. Auch wenn sie nicht mehr lebt, kannst du Susan verzeihen. Und wenn das geschehen ist, kannst du Gott bitten, dass er dir verzeiht.« Sie lächelte mir flüchtig zu. »Und das wird er ganz sicher, Abigail.«
»Und Liza? Wird sie mir auch verzeihen?«, fragte ich.
»Das ist das Einzige, worauf du keinen Einfluss hast«, erwiderte Margot, kniff die Augen zusammen und blendete kurz auf, weil ein Wagen uns mit Fernlicht entgegenkam. »Vielleicht wird sie es, vielleicht auch nicht. Bei allem, was sie durchgemacht hat, besitzt Liza doch ein gutes
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