Die Fäden des Schicksals
wurden und die Abenddämmerung in die Nacht überging, ohne dass wir eine Spur von ihr gefunden oder eine Nachricht von Evelyn erhalten hätten, wurde ich immer verzweifelter.
»Es ist schon zu dunkel. Sie trägt diese schwarze Jacke, die sie so mag, und natürlich ihre schwarzen Jeans und die schauderhaften schwarzen Stiefel. Wir könnten glatt an ihr vorbeifahren, ohne sie zu sehen.«
»Wir würden sie im Scheinwerferlicht erkennen«, versicherte Margot mir. »Bei den Schneewehen überall kann sie sich nicht weit von der Straße entfernen. Nun komm schon, Abigail, sei ein bisschen optimistischer! Wir werden sie finden, und zwar bald. Und wenn nicht wir, dann Evelyn. Du wirst schon sehen.«
Margot klang sehr zuversichtlich, aber ich war nicht davon überzeugt, dass sie selbst daran glaubte. Eine ganze Zeit lang fuhren wir schweigend dahin. Mir knurrte der Magen. Die Zeit fürs Abendessen war schon vorüber, und mir fiel plötzlich ein, dass ich noch nicht einmal etwas zu Mittag gegessen hatte. Doch ich sagte nichts. Mir ging es jetzt nur darum, Liza zu finden. Ich blickte auf die Uhr: Es war schon fast neun.
»Wo kann sie nur sein? Ach, Margot, es ist alles meine Schuld. Wir werden sie nicht finden, und selbst wenn, wird sie mir ganz bestimmt im Leben nicht verzeihen.«
Für einen Augenblick löste Margot den Blick von der Straße und sah mich an. Als ich das Mitgefühl in ihren Augen sah, wurde mir noch elender zumute. Ich hatte ihr Mitleid nicht verdient.
»Sag so etwas nicht, Abigail. Ja, es stimmt schon, du hast ein paar schwere Fehler gemacht, aber schließlich bist du auch nur ein Mensch. Wenn du Liza sagst, wie aufrichtig leid es dir tut, und ihr dein Verhalten erklärst, wird sie dir verzeihen.«
»Wie könnte sie? Ich habe sie im Stich gelassen und, was noch schlimmer ist, Susan ebenfalls. Meine eigene Schwester.« Ich seufzte. »Wie kann ich da erwarten, dass Liza mir verzeiht? Ich habe ihrer Mutter ja auch nicht verziehen. Susan hat mir so wehgetan, dass ich es ihr nie vergeben konnte.
Du gehst doch oft in die Kirche, nicht wahr, Margot?«, setzte ich hinzu. »Schon seit du ein kleines Mädchen warst?«
Als sie nickte, fuhr ich fort: »Ich war auch immer ein Mitglied der Kirchengemeinde, stellte Schecks für sie aus und ließ mich hin und wieder beim Gottesdienst sehen. Doch ich ging nicht regelmäßig zur Kirche. Bis vor Kurzem. Vor ein paar Wochen hielt der Pfarrer eine Predigt über das Vaterunser, genauer gesagt über die Stelle, wo es heißt ›und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‹.« Ich wartete auf eine Bemerkung Margots, doch sie lauschte schweigend, den Blick unverwandt auf die Straße gerichtet.
»Wenn man hört, dass einem nur vergeben wird, sofern man auch selbst bereit ist zu vergeben …« Da ich kein Taschentuch bei mir hatte, wischte ich mir die Augen mit dem Ärmel ab. Ich musste an den Tag denken, als ich zu Susan gesagt hatte, dass ich ihr niemals verzeihen würde und sie nie wieder sehen wollte.
»Und jetzt ist es zu spät«, flüsterte ich bei mir selbst. »Sie ist nicht mehr da. Es ist zu spät.«
»Nein, das ist es nicht«, sagte Margot. »Es ist niemals zu spät, einem anderen Menschen zu verzeihen, ebenso wie es nie zu spät ist, um Verzeihung zu bitten.«
Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. Das war lieb von Margot und gut gemeint, und ich bewunderte sie für ihre echte Gläubigkeit. Genau genommen war ihr starker Glaube sogar der Grund dafür, dass ich wieder öfter in die Kirche ging. Sie war immer so glücklich und gelassen, selbst wenn nicht alles gut lief, und ich hoffte, ein wenig von dieser Haltung würde auf mich abfärben. Aber allmählich kam es mir so vor, als hätte sie sich im Fernsehen zu oft die Sonntagsshows dieser Prediger mit der Föhnfrisur und dem Südstaatenakzent angesehen. Meine Probleme lösten sich nicht dadurch, dass ich immer wieder das Vaterunser aufsagte und versprach, mich noch mehr anzustrengen.
»Das ist leicht gesagt, Margot, aber du verstehst es nicht. Was zwischen mir und meiner Schwester vorgefallen ist, war so unglaublich schlimm. Wirklich ganz schrecklich. Es war unverzeihlich, was Susan mir angetan hat. Aber ich habe es ihr heimgezahlt. Ich habe meine Drohung wahr gemacht, dass ich nie wieder etwas mit ihr zu tun haben wollte. Nicht einmal, als ich erfuhr, dass sie an Krebs sterben würde. Und das war noch viel unverzeihlicher.«
»Abigail, meine Mutter pflegte immer zu sagen, dass
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