Die Fährte der Toten
zulassen sollen.
'Ich bin kein Kleinkind, ok? Ich fahr nur eben runter und kauf ein paar Sachen ein. Was soll schon passieren?'
Eine ganze Menge, denkt Lee. Du kennst diese Welt da draußen nicht halb so gut wie ich. Du magst glauben, dass du kein Kind mehr bist, doch in meinen Augen bist du eines. Das Summen ihres Handys reißt sie aus ihren Gedanken, als sie sich eine Zigarette anzünden will, und fluchend lässt sie es aufschnappen.
'Nett, dass du dich mal meldest. Ich sollte - '
'Hallo Lee.'
Kyles Stimme hat die Wirkung einer Ohrfeige, und Lee muss sich erst einmal fangen, bevor sie antwortet.
'Wo ist sie?'
'An einem sicheren Ort.'
'Was willst du?'
'Ich? Nichts Wildes. Nur ein Treffen an einem Ort meiner Wahl. Wir treffen uns, wir unterhalten uns, du gibst mir ein paar Informationen, und wenn ich zufrieden bin, kannst du deine Hübsche gesund und munter in Empfang nehmen und wir sehen uns niemals wieder.'
'Und wenn ich das nicht mache?'
'Wird sie einen äußerst unschönen Tod erleiden. Und ihre Leiche wird dann langsam, still und leise vor sich hin zu rotten. Ohne das du je erfahren wirst, wo...'
Lee glaubt Kyles Fratze vor sich zu sehen, und sie muss sich zusammenreißen, um das Handy nicht wutentbrannt an die Wand zu knallen.
'Wo?'
Die Stimme aus dem Telefon spricht weiter zu ihr, doch für Lee scheint sie Lichtjahre weit entfernt zu sein. Sie bemerkt, dass ihre Linke zittert. Ihre Stimme klingt weit weg, als sie den Treffpunkt bestätigt. Dann ist die Verbindung getrennt. Lee wirft das Handy auf den Tisch, während sich in ihrem Innern Leere ausbreitet. Zum ersten Mal hat sie das Gefühl, Frank zu verstehen. Und auch Jennifer. Beide auf ihre Art.
'Wir sind keine Menschen mehr.'
Lee ballt ihre Fäuste. Nein, wahrhaftig nicht. Nicht. Mehr. Und das werden einige schon bald zu spüren bekommen. Sie werden lernen, dass sie ein sehr, sehr böses Mädchen sein kann. Und das wird eine Lektion sein, die sie alle nicht so schnell vergessen werden. Ganz. Sicher. Nicht.
Lee spürt, wie das Monstrum in ihrem Innern erwacht, und sie drängt es mit Mühe in seine Höhle zurück. Nicht jetzt. Nicht hier. Später.
Lass sie ziehen, faucht es. Du wirst nicht deine Existenz riskieren für einen Menschen. Ich werde es nicht zulassen.
Und hat dieser Teil von ihr nicht Recht? Tanya ist nur ein Mensch. Genau wie Daryll. Lee schüttelt den Kopf. Nein, sie wird nicht noch einmal jemanden zurücklassen. Diesmal wird sie ihre Rechnungen nicht von anderen begleichen lassen.
Nein! Das wirst du nicht tun! Vergiss sie. Sie ist totes Fleisch! Sie! Ist! Tot!
Der Ruf hallt durch Lees Kopf, und kurz ist sie davor zu kapitulieren, diesen letzten Schritt zu machen...
Nein, denkt sie. Ich widersetze mich. Ich werde nicht aufgeben. Niemals! Im Gegenteil, ich werde sie mir zurückholen. Koste es, was es wolle. Und wenn ich selbst dabei draufgehe.
***
Das Leiden.
Das süße Leiden.
Woher kommen nur diese seltsamen Gedanken? Wahrscheinlich hervorgerufen durch ihren brummenden Schädel. Hat sie gestern getrunken? Nein...da war doch...
Sie wollte nach ihrem kleinen Ausflug nach Hause fahren und hat sich dabei abfischen lassen wie eine Anfängerin. So würde Lee es ausdrücken. Was ist sie nur für eine dämliche Idiotin.
Tanya reibt sich die Augen und schaut sich um. Anscheinend ist sie in einer alten Bauruine eingekerkert. Grobe unverputzte Wände. Eine massive Tür als einziger Zugang zum Raum. Keine Fenster, nur ein schmuddeliges unerreichbares Oberlicht, das den kahlen Raum spärlich erleuchtet. Keine Toilette, kein Waschbecken, keine Pritsche. Nur eine Plastikflasche mit Wasser, eine Packung Kekse und ein Eimer. Daneben eine tote Kakerlake. Sollten diese Viecher nicht angeblich sogar Atomkriege überleben?
Tanya lehnt sich gegen die kalte Wand. Das kommt also dabei raus, wenn man einfach nur ein bisschen seine Langeweile bekämpfen will – man landet im Hotel Saigon. Und wenn sie auscheckt – wird Lee sie durch den Wolf drehen. Falls sie sich überhaupt darum kümmert, wo sie ist. Wer weiß, vielleicht glaubt sie, dass ich doch abgezischt bin und lässt mich einfach laufen, denkt sie.
Ihr knurrender Magen bringt sie auf andere Gedanken. Wie lange hat sie eigentlich nichts mehr gegessen? Missmutig nimmt sie sich einen Keks und schlingt ihn hungrig herunter, nachdem sie kurz daran geschnuppert
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