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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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hinein.
    In der säulengeschmückten Vorhalle, an deren Ende eine weit geschwungene Treppe zu beiden Seiten in den oberen Stock hinaufführte, stand ein livrierter Pförtner hinter einem Tresen und sortierte gerade die Briefe der Morgenpost, als Bob eintrat und das Paket vor ihn hinstellte.
    »Eine Lieferung für Herrn Weaver«, sagte er und zückte den Expeditionsschein. Er sprach ein wenig gehetzt, da er von dem Wunsch getrieben wurde, so schnell wie möglich das Gebäude wieder zu verlassen. »Ich darf um die Quittierung des Empfangs bitten.«
    Der Pförtner, ein Weißer mit unsäglich banalen Zügen, bedachte den Gepäckträger mit einem verächtlich stechenden Blick, nahm wortlos einen Bleistift zur Hand und unterschrieb den Schein.
    Schon wollte Bob sich zum Gehen wenden, da hielt ihn der Pförtner zurück: »Einen Moment noch. Ich habe Anweisungen für das Eintreffen dieser Lieferung. Warten Sie hier.« Er trat hinter dem Tresen hervor, nahm das Paket an sich und ging rasch die Treppe hinauf.
    Bob war es gar nicht recht, dass er noch länger an diesem Ort verweilen musste. Er fühlte sich sehr unwohl. Nervös ging er einige Schritte auf und ab; die Geräusche seiner groben Schuhsohlen auf dem Boden aus poliertem Granit hallten hell von den Wänden wider. Um sich abzulenken, sah er sich ein wenig um, obgleich ihn die seltsam herrische Pracht des Raums eher in seiner Unsicherheit bestärkte.
    Plötzlich blieb sein Blick an einem Bild hängen, das an der Stirnseite der Halle über der Treppe platziert war; das Porträt eines nicht mehr jungen Mannes, dessen knochig schmaler Kopf beinahe kahl war und der durch die runden Gläser einer goldgeränderten Brille hindurch melancholisch auf den Betrachter hinabsah. Ein Trauerflor aus schwarzer Seide war um eine Ecke des Rahmens drapiert.
    Ein gespenstisches Gefühl überkam Bob. Ihm war, als hätte er diesen Mann schon einmal gesehen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich einfach nicht erinnern, woher ihm das Gesicht vertraut war. Je länger er das Porträt betrachtete, desto mehr war ihm, als würde er in einen Nebel starren, in dem die fiebrigen Echos von Schmerzen und Todesangst umherirrten. Es jagte ihm grässliche Furcht ein. Und doch gelang es ihm nicht, die Augen von dem Bild abzuwenden. Erst als der Pförtner die Treppe hinabkam, verschwanden die verstörenden Empfindungen schlagartig und ließen Bobs Geist für einen winzigen, rasch verflogenen Moment in einer merkwürdigen Leere zurück.
    Der Pförtner übergab Bob eine der beiden ehemals aufeinandergeschnürten Schachteln, die nunmehr von der anderen getrennt und mit einer neuen Aufschrift versehen war. »Herr Weaver wünscht, dass dieses Paket mit dem nächsten Zug nach Savannah geschickt wird«, ordnete er herablassend an und händigte ihm drei Silbergroschen aus.
    Bob Prinz versicherte, sich darum zu kümmern, und verließ dann das Gebäude. Er war überglücklich, wieder ins Freie zu gelangen. Kaum stand er vor der Tür, holte er zunächst einmal tief Luft. Dann klemmte er sich das Paket unter den Arm und machte sich auf den Weg zurück zum Bahnhof.
    Als er zwischendurch am Straßenrand innehalten musste, um eine heranjagende Feuerspritze passieren zu lassen, las er beiläufig, an wen das Paket gerichtet war. Noch kostete es ihn einige Mühe, geschriebene Worte zu entziffern, daher nutzte er jede Gelegenheit, mehr Übung darin zu erlangen. Buchstabe um Buchstabe, wie es seine Gewohnheit war, fügte er im Kopf aneinander. Doch als er erfasste, wessen Namen die Zeichen ergaben, traf es ihn wie ein unerwarteter Schlag in den Magen:
    Col. Charles
Beaulieu
, 62nd
Georgia
Volunteer Inf., Camp Hutchinson Island, Savannah.
    Aller Hass, aller Ekel, die er für Beaulieu empfand, schossen aus den Tiefen seiner Seele empor. Er wollte das Paket von sich werfen, verbrennen, den stinkenden Fäkalien einer Senkgrube übergeben. Doch er tat nichts davon.
    Stattdessen hielt er die Schachtel fest in beiden Händen und spuckte einige Laute aus, die wie ein fremdartiges Grollen waren. Er kannte die Bedeutung der Worte nicht. Doch er wusste, dass es ein mächtiger Fluch war, ein Fluch, den seine Vorfahren von jenseits des Meeres mitgebracht hatten. Seine Großmutter hatte ihn gewarnt, ihn jemals unbedacht im Zorn auszusprechen. An diese Warnung aber verschwendete er keinen Gedanken. Das Verderben sollte über Charles Beaulieu hereinbrechen. Alles andere war ihm egal.
    Nachdem die letzte Silbe über seine Zunge

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