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Die Falken und das Glück - Roman

Die Falken und das Glück - Roman

Titel: Die Falken und das Glück - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reber Sabine
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am Bug ihrer Karavelle auf die Insel mitgebracht.
    Als Kind hat Granuaile sich ganze Nachmittage lang in der Abtei von Clare Island aufgehalten, hat den Nonnen zugehört, die im oberen Stockwerk ihre Gebete murmelten, und die Tierskizzen an den Wänden betrachtet. Gelegentlich hat sie sich auf den kalten Steinboden gelegt, um die Zeichnungen an der Decke besser sehen zu können.
    Ein dreischwänziger Drache aus dem Dachgewölbe nistete sich in ihren Träumen ein, weil sie glaubte, er könne mit den Flügeln Feuer speien. Der Drache komme aus China, erklärte ihr ein Mönch, als sie im Herbst während des Schulunterrichts im Kloster von Murrisk immer noch davon sprach.
    China.
    Das Wort hat sich neben dem feuerspeienden Drachen in ihren Gedanken festgesetzt. Sie träumte von ausgedehnten Seereisen, von fernen Ländern, neuen Kontinenten.
    Jahre später, als Granuaile mit ihrem Vater an Bord seiner großen Galeere die Clew Bay befuhr, fragte sie ihn, wie weit es bis nach China sei.
    Was willst du dort, Tochter, sagte Dubhdara, die Seide kriegen wir hier auch!
    Und dann erklärte er ihr, woran man die Schiffe erkennt, die es zu überfallen lohnt: schwerfällige Karacken aus dem Mittelmeerraum, die sich vom Gewicht der Ladung tief in die Wellen graben und deren Rahsegel nach der langen Reise in Fetzen von den Masten hängen. Karacken, deren Bordkanonen längst alle Munition verschossen haben. Moderne Galeonen, die mit reicher Beute aus der Neuen Welt zurückkehren, auch sie gezeichnet von den Strapazen der Atlantiküberquerung, denen die Flaggen als Lumpen von den mit Fässern und Säcken gestützten Masten hängen, und deren Mannschaft vor Müdigkeit und Euphorie über den bevorstehenden Landgang jede Wachsamkeit aufgegeben hat.
    Neben ihrem Kissen liegt ein eiförmiger Stein. Sie dreht und drückt ihn in ihrer Hand und fährt mit raschen Daumenbewegungen über seine Oberfläche, als wolle sie ihn polieren. Es ist ein grauer Stein mit einem weißen Ring und mit Löchern, die aussehen, als hätte jemand mit Schrot auf ihn geschossen. Seine Oberfläche ist speckig und glänzt, denn sie hat ihn jahrelang als Glücksbringer mit sich herumgetragen. Sie fand ihn als Kind, als sie die unterschiedlichen Steine am Strand untersuchte: rote, gelbe, grüne, schwarze, solche mit weißen Streifen und solche mit Löchern: das waren die Hexensteine.
    Mit der Faust umschließt sie ihren Stein, als könne sie seine Kraft herauspressen.
    Im Turm hat sie Messer gehortet, Säbel, Streitäxte, Speere, fünf weitere Kisten Schießpulver. Die Männer haben Waffen und Munition auf die Schiffe verteilt. Auch die drei großen Eichenkisten mit Kanonenkugeln, die ihr Vater für Notfälle in einem Versteck im Boden der Burg eingelagert hatte, hat sie an Bord schaffen lassen.
    Spät am Abend ist sie in den Bauch der ersten Galeere hinabgestiegen und hat ihren Männern Krüge mit stärkendem Ale und das letzte Essen gebracht: mit Schafblut vermengte Gerste, altes Brot. Sie hat mit ihnen getrunken und sich vergewissert, dass sie bereit sind.
    Mehrmals hat sie die Kanonenkugeln gezählt, die Kisten und Pulverfässer, hat sich versichert, dass alle Schwerter scharf, die Kanone gut eingefettet, alle Schießwaffen geladen sind.
    Dann hat sie sich in ihren Turm zurückgezogen.

Die zweite Nacht ihres gemeinsamen Lebens verbrachten sie starr nebeneinander liegend wie zwei Tote. Keiner von beiden wagte es, die Hand nach dem anderen auszustrecken. Im Dachgebälk fraß ein Holzwurm so laut, als zerbeiße er Zwieback. Beide lauschten sie dem Gebrösel, schwiegen trotzig.
    Am nächsten Morgen reichte Daniel ihr schweigend das Badetuch, als sie aus der Dusche kam. Linda sah ihn nicht an, sagte auch nicht danke.
    Schweigend saßen sie einander beim Frühstück gegenüber.
    Willst du immer noch, dass ich bleibe?, fragte sie schließlich.
    Komm, ich zeige dir etwas!, sagte Daniel.
    Im Gebüsch hingen Fetzen von Heuballenverpackungen. Müll lag herum. Kerzen, Plastikblumen und bunte Steine zierten die Gräber. Fischernetze hingen über dem Grabschmuck, damit der Wind nichts fortriss. Daniel deutete auf eine Boje in leuchtendem Magenta. Der Kunststoff war geplatzt, ein Haken hielt die Hälften zusammen.
    Daraus ließe sich eine hübsche Lampe bauen!, rief er.
    Du wirst doch nicht das Grab schänden, um ein Souvenir für die Touristen zu basteln?!
    Ich werde die Bojenlampe über deinen Schreibtisch hängen, damit du immer weißt, wo oben ist. Wer weiß schon, wie tief

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