Die Fallen von Ibex
ganze Arten ausgelöscht worden waren, hatte sich neues Leben entwikkelt und die Leere ausgefüllt, alte Arten hatten sich angepaßt. Das Wasser siedete von den Bewegungen dieser kleinen Lebensfunken und vage größerer; aber sie alle waren nicht das, was sie suchte.
Sie sah nichts; sie spürte sie nur. War es so auch bei Linfyar? War das sein Leben? Wie fremd. Sie suchte weiter, ließ ihren Geist dahin-treiben, war ganz auf das Fühlen und nicht auf das Sehen konzentriert, und das war um so vieles verwirrender, um so vieles unsicherer als die scharfen Gewißheiten des Sehens. In diesen Sekunden begann sie zu verstehen, wie sehr sie auf ihre Augen und die Informationen, die sie ihr lieferten, angewiesen war. Vielleicht war das in gewisser Weise der Grund, weshalb sie von den Bewohner-Gefangenen des Diadems zuerst die Augen gesehen hatte - ihre unterbewußte, symbolische Reaktion auf die für sie so große Bedeutung des Sehens. Vielleicht war es aber auch nichts dergleichen.
Sie lauschte ihren eigenen Gedanken nach, kicherte und wurde beinahe in ihren Körper zurückgeschwemmt. Doch sie war noch nicht bereit, aufzugeben; sie zwang sich, die Suche fortzusetzen. Immer weiter hinaus, tief und weit… dann in seichtere Gewässer - bis sie plötzlich Zielstrebigkeit spürte.
Es war ein Feuer, heißer als alle anderen und nahe an der veränderlichen Grenze zwischen Luft und Wasser; ein Lebensfeuer, das sich gelassen an den Schwung des Meeres anpaßte; eine Art Vergnügen - empfunden ob der Bewegung des eigenen gewaltigen Körpers. Dieses Leben fühlte sich ein wenig an wie jener Tars, den sie vor so langer Zeit gekannt hatte, jenes halbintelligente Tier, das sie zu heilen gelehrt hatte; oder vielmehr: das sie gelehrt hatte, daß sie heilen konnte. Sie erinnerte sich (jetzt gemütlich, da sie mit diesem Wesen dahintrieb) an jene Zeit und an ihr Zögern damals, und sie erinnerte sich an das großartige Raubtier, das sich mit ihr angefreundet und ihr das Leben - und mehr als das Leben -gerettet hatte. Sie fragte sich, ob er sich wohl noch an sie erinnerte; und dann dachte sie daran, wie kurz sein Leben dauerte - höchstens fünf Jaydugar-Winter, fünfzehn Standardjahre, wahrscheinlich weniger. Er war damals bereits erwachsen gewesen, sein erster Winter bereits bewältigt; und mittlerweile war er wohl tot, bestimmt, nach zwölf Jahren, sein Körper Nahrung für die Würmer, sein Schädel möglicherweise eine Trophäe an der Wand eines Jägers, obwohl das wiederum ziemlich unwahrscheinlich war… Er war gerissen; ein Tier mit einer beachtlichen Zielstrebigkeit und sogar mit ein wenig Weisheit, wenn man diesen Begriff weit genug dehnte, so daß er zu seinem tiefen und breitgefächerten Bewußtsein allen tierischen und pflanzlichen Lebens ringsumher - und wie er selbst darin eingefügt war - paßte. Trauer erfüllte sie, und fern, auf der schwimmenden Insel, quollen Tränen unter ihren Lidern hervor, Tränen um einen in den vielen Windungen ihres Lebens vergessenen Freund. Ihr kam es so vor, als habe sie ihn verraten, weil sie ihn so gründlich vergessen hatte; Verrat an jemandem, dem sie soviel verdankte, an jemandem, dem sie sich so verwandt gefühlt hatte. Dieses Seetier, das sich so nahe an der Wasseroberfläche sonnte, hatte etwas von derselben katzenhaften Anmut und auch dieselbe ausgeprägte Zielstrebigkeit; etwas von derselben Neugier… dem Anfang allen Selbstbewußtseins. Sie kam behutsam näher… und glitt leicht hinein.
Sich träge bewegende Flossen; ein Heben und Senken. Arme.
Beine. Die Empfindungen sind dieselben, Arme oder Beine. Hereinkommende Daten. Kontrollierte Empfindungsflut. Beine/Arme, die sich umeinander schmiegen, gegeneinander streifen. Daten.
Druck. Veränderung. Orientierung. Farbe. Form. Geschmack. Eine Unendlichkeit leicht voneinander abweichender Geschmacksarten, beständig ausgewertet. Ein Gefühl des Gesättigtseins, der Lethargie, der ungeheuren Zufriedenheit.
Dieses Wesen schien eine seltsame Kombination aus Krake und Wal zu sein; riesengroß, ein Dutzend Meter tief unter der sich hebenden und senkenden Wasseroberfläche; ein Wald aus Tentakeln ringsumher; im Einklang mit der Bewegung des Wassers.
Kraken-Wal. Es trieb… nein; er ließ sich von der Strömung tragen, weit hinter der Insel. Sie hatte den Eindruck von Riesen-haftigkeit, doch es war schwer, die Größe richtig zu schätzen, das Wesen sah sich selbst ganz anders. Wenn es überhaupt dachte. Es erweckte den Eindruck, ein
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