Die Fallen von Ibex
kommt, wird sie uns mitreißen, in die Untiefen hinaus; sie wird über uns wegdonnern, wird die Insel entweder zum Kentern bringen oder alles, was darauf wächst, dem Erdboden gleichmachen und den Rest in Stücke hauen.”
„Wie lange? In zweierlei Hinsicht, Shadi. Wieviel Zeit haben wir noch, bis die Flutwelle kommt, und wie lang ist die Wellenfront? Und können wir sie irgendwie hinter uns lassen?”
Shadiths Gesicht zeigte plötzlich einen entrückten Ausdruck, dann verzerrte es sich zu einer enttäuschten Grimasse. „Ich weiß es nicht.” Langsam, zornig schlug sie sich auf die Oberschenkel. „Ich weiß es nicht. Sie ist riesig. Wenn ich nur an sie denke, zermalmt sie mich. Ich kann nicht mehr atmen, wenn ich daran denke. Ich komme mir vor wie eingeschlossen - in einem Raum, dessen Decke herunterkommt und dessen Wände zusammenrücken, um mich zu zerquetschen.” Sie schüttelte sich. „Riesig und unaufhaltsam und vor nichts haltmachend. Sie ist noch weit genug weg, ich kann den Druck noch aushalten, aber sie ist schnell.” Sie blickte zur Sonne. „Ich glaube, sie kommt mit der Dunkelheit. Bis dahin müssen wir von diesem Abfallhaufen ‘runter sein. Ich glaube, du könntest sogar das überleben, Lee, aber wir anderen … wir nicht.
Nicht, wenn wir hier bleiben.”
Aleytys überschattete die Augen mit einer Hand, schaute angestrengt hoch, kaute auf der Unterlippe. „Sechs Stunden bis zum Dunkelwerden. Ungefähr.” Sie rieb sich die Augen. „Und wir müssen so schnell wie möglich herunterkommen, damit wir noch ein Stück weit landeinwärts marschieren können. Richtig. Du spürst Wakille auf und sagst ihm, daß er zusammen mit Linfyar die Gyori satteln und bepacken soll. Leichte Bündel, wir werden uns mächtig beeilen müssen, und das Gelände wird schwierig sein. Nur das Wesentliche, aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.” Sie stand auf. „Ich fange mir ein paar Augen und schaue mir die Küste an.
Mal sehen, ob ich ein Anlegeplätzchen für uns finden kann.”
Barriere-Inseln, wie vom Meer hochgeschobene Dünen, lang und schmal, mit blassen, in flachen Bögen niedergekämmtem, grünem, sägezahnartigem Gras, unten gehalten von anhaftenden Salzkristallen, die ihr Hellgrün beinahe in ein Weiß verwandelten. Dürftige Gestrüppflecken. Und Vögel. Tausende von Vögeln, groß und klein, Hunderte von Arten, die allesamt in lautstarkem Einvernehmen miteinander lebten. Jenseits der Inseln, nach einem weiteren halben Kilometer Wasser, stießen gewundene Meerfinger blau in dunklen, dichten Marschbewuchs hinein vor. Noch mehr Vögel und eine Vielfalt unterschiedlichsten Lebens im Salzsumpf, gesundes, vitales Leben, nicht so tödlich, wie Esgard dies vermutet hatte, aber doch schlimm genug. Der Sumpf war übelriechend, feucht, voller Tod, voller Leben, das auf jedwedes andere Leben Jagd machte; doch jene Aura aus Krankheit und Zerfall, die über den Faulstellen und Verschorfungen der Ebene hing, fehlte hier auf angenehme Art und Weise. Als sich der grauweiß gesprenkelte Seevogel tief über die Baumwipfel hinabgleiten ließ, sah sie es …
und bekam Angst. Unmöglich, diese Ödnis zu durchqueren. Sie ließ den Vogel nach Westen hin abbiegen, flog die Küste ab in der Hoffnung, einen besseren Landeplatz ausfindig zu machen. Etwa eine halbe Stunde lang flog das Tier auf dieser Route, dann erblickte Aleytys ein wenig weiter nordwestlich, ein paar Kilometer vom Meer landeinwärts, dunkle Türme, gleich mehrere, mit scharf abgekanteten Ecken.
Der Baumsumpf wechselte in Grasmarsch; gewaltige
Morastflächen, langgezogene Wasserarme, stillstehendes, schaumiges Wasser, in dem es vor Dingen wimmelte, die im Hin- und Herzucken der Vogelaugen auftauchten und sogleich wieder verschwunden waren, ein ebenso geschäftiges und tödliches Lebensnetz wie unter den Bäumen.
Inmitten der gigantischen Ruinenstadt erhoben sich hohe Gebäude, die Fenster lange Streifen rings um die kargen, schmucklosen Seiten. Einen Moment lang sahen sie wie unversehrt aus, dann war der Vogel nahe genug und zwischen ihnen, und die Illusion verging. Es waren leere Hülsen. Zahllose Fenster gähnten ihr entgegen, Heimstatt für Vögel; in zahllosen anderen hingen noch Bruchstücke von Glas, Scherben, die wie Zucker schmolzen unter der Einwirkung von Jahrhunderten; wieder andere Fenster waren heil, das Glas ein schimmernder Spiegel, der die Einöde ringsum wie ein funkelndes Auge einfing und bewahrte. Die Fundamente bröckelten bereits
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