Die Fallen von Ibex
führte das Gyr in das seichte Wasser, rannte neben ihm her, und das Wasser stieg nicht mehr über ihre Hüften an. Sie erreichte das Land, brachte das Gyr zum Stehen, schwang sich in den Sattel, zog die Füße an und erhob sich auf dem Rücken des Tieres; dort stand sie hoch aufgerichtet, das Gleichgewicht ausbalanciert. Der Salzgrassumpf dehnte sich in ungebrochenem Hellgrün vor ihr aus, ein ungeheuerlicher Teppich, dessen Halme sich graziös vor dem böigen Südwind verneigten. Der Himmel war erfüllt von Vogelschwärmen, dichte, umherwirbelnde Trauben, flatternd und aufeinander einhackend.
Sie brausten empor, stießen gleich darauf wieder herab, um sich vorübergehend niederzulassen - und erneut aufzuflattern, all dies sichtbarer Ausdruck des Unbehagens, das sie erfüllte, ein Unbehagen, das dem Warten auf das Kommende, auf die große Welle, die sie alle bedrohte, entwuchs.
Endlich sah sie einen langen, flachen Streifen - das Geländer der Dammstraße - und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. In einer fließenden Bewegung ließ sie sich im Sattel nieder, blickte zurück und von einem Gesicht zum anderen, dann schwang sie sich wieder herum und trieb das Gyr in einen leichten Galopp. Der Wind wurde schlimmer, ein Knattern, das landeinwärts tobte, er roch nach Hitze und schmelzendem Kupfer, ein giftiger, unangenehmer Gestank, der den Salz- und Fischgestank der Küste überlagerte. Die Hufe des Gyrs gruben sich tief in den nassen, zusammengebackenen Sand und ließen schwere Sandfontänen nach hinten davonspritzen.
Einst mußte die Küste hier viel weiter ins Meer hinausgegriffen haben; vielleicht hatte es auch irgendwo weiter draußen, vor der Flußmündung, eine größere Insel gegeben. So oder so - sie mußten einen Grund gehabt haben, diesen Damm zu bauen - aber dieser Grund existierte schon lange nicht mehr, und heute bot der Damm einen jämmerlichen Anblick: Die Betonmauern waren zerborsten, die Säulen bröckelten, die Verstärkungsstangen waren verdreht und verrostet - zerbrechliche Überreste, die der Wind bereits losriß und die von der nahenden Flutwelle endgültig erledigt werden würden.
Sie trieb das widerstrebende Gyr in das schäumende Wasser und umrundete das zerborstene Geländer; das Tier setzte seine geteilten Hufe mit übertriebener Vorsicht, schüttelte den Kopf. Sein Winseln ging im Toben des Windes und im Brodeln und Schlagen des Wassers unter. Gischt flog heran, und das Gyr schnaubte vor Unmut und riß und zerrte am Zügel.
Sie erreichten das Dammende. Aleytys schnalzte dem Tier zu, und dessen Muskeln strafften sich; die gewaltigen Hinterläufe schnellten sie hoch, ein kraftvoller Sprung, die Vorderläufe scharrten über den wegbröckelnden Beton, fanden Halt, die Hinterläufe schoben nach, dann waren sie oben und wurden vom eigenen Schwung und vom Sturmwind noch ein paar Schritte weitergetragen. Sie hörte Shadiths Brüllen hinter sich und hielt das Tier in Bewegung, um Platz zu machen für sie, trieb es in einen steifbeinigen Gang, obwohl es sich dagegen wehrte; es wollte laufen, es wollte wegkommen von hier. Aleytys sah zurück. Shadith und Linfyar tauchten gerade auf der Dammstraße auf und trieben ihre Gyori an. Dann kam Wakille. Das Packtier folgte ohne Leine. Und dahinter… weit draußen, auf dem Meer, erschien jetzt eine niedrige, dunkle Linie am Horizont, und ein tiefes Grollen gesellte sich dem Kreischen des Windes bei und dem Krachen und Stöhnen des Wassers. Fröstelnd gab sie ihrem Reittier den Zügel frei, so daß es in einen raumgreifenden Galopp verfiel. Sie hoffte, daß das Tier seine Kräfte nicht überschätzte.
Im Westen verlosch das Licht des Tages zu einem schlammigen Rotbraun; der Himmel über ihnen war zu blutigem Purpur geworden. Die düstere, trügerische Helligkeit verwandelte ihre Flucht in etwas Gespenstisches; alles war dem Zufall und Vermutungen und Hoffnungen überlassen. Sie machte sich so leicht wie möglich, paßte sich den Bewegungen des Tierrückens an, balancierte ihre Eigenbewegungen geschickt aus, um das Gyr in jeder nur erdenklichen Art und Weise zu unterstützen. Es wurde müde. Sie war schwerer als die anderen, und als sie gleich darauf zurückschaute, sah sie, daß die anderen Gyori gezügelt wurden, um weiterhin hinter ihr zu bleiben. Sie bedeutete ihren Gefährten, an ihr vorbei zu reiten, sie winkte und fluchte. Sinnlos, zu rufen, keine menschliche Stimme konnte dieses Tosen durchdringen. Kommt schon, rief sie ihnen in Gedanken
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