Die falsche Frau
Mantel auf die Straße zu gehen. Eine Marotte, die sie mit einer britischen Kommilitonin geteilt hatte, die es bei kürzeren Wegstrecken zwischen Uni und Wohnung für unchic hielt, ihre Weiblichkeit ausgerechnet in sperrigen Wintersachen zu verstecken. Vielleicht war es aber auch einfach ein Relikt ihrer Kindheit, sich nicht viel aus der Kälte zu machen. Sarah Rosen war auf dem Land aufgewachsen und verbrachte die meiste Zeit bei den Nachbarn, die in der Wachau einen Blumengroßhandel betrieben, sortierte Alpenveilchen oder schnitt Rosenstöcke, auch in der kalten Jahreszeit nur mit Pullover und Rock bekleidet.
Auf der Höhe eines Möbelgeschäfts kam ihr ein bekanntes Gesicht entgegen.
»Grüß Gott, Frau Doktor Rosen«, sagte der Mann, als er nahe genug war, und stoppte. Er war mittelgroß, trug eine helle Lammfelljacke, die er offen gelassen hatte, eine graue Hose, sorgfältig auf Kniff gebügelt, und sah wie immer gediegen und korrekt aus.
»Feierabend?«, fragte er.
»Herr Sartorius?« Sarah stand einem ihrer Patienten gegenüber, der ihr hier in letzter Zeit mehr als einmal über den Weg gelaufen war.
»Und Sie?«
Seine blitzblauen Augen funkelten. »Spazieren«, antwortete er. »Möchten Sie vielleicht ein Stückchen mitgehen?«
Sarah schüttelte den Kopf.
Immer diese Einsilbigkeit. Dieser Anflug von Schüchternheit, aber das täuschte. Offiziell nichts anderes als Zahlen und Schmierstoffe im Kopf, arbeitete Sartorius als Salesmanager und gab die Hälfte seines Gehalts für Huren aus. Ein stinknormales Doppelleben also, das sich zwischen Ölgeschäften und Puffs abspielte. Sicher war er wieder drüben im Hotel Orient gewesen, einem seltsamen Etablissement, dem sie vor Sartorius nie Beachtung geschenkt hatte. Warum spielte er jetzt den Biedermann?
»Ist Ihnen denn gar nicht kalt so?«, fragte Sartorius mitleidig.
Sarah lächelte verlegen und riskierte einen Blick in seine Augen, die sie neugierig musterten.
Ob ihr der Mann auflauerte? Es war kein Zufall, dass er sich bei seinen Exzessen ausgerechnet in ihrer Nähe wissen wollte, an einem sicheren Ort, wie er in der letzten Sitzung gesagt hatte.
Ein Rosenverkäufer war vorbei gekommen und hielt Sartorius mit einem Blick auf Sarah eine langstielige Baccara vor die Nase.
»Gerne würde ich der Dame diese Rose schenken«, sagte Sartorius. »Aber … aber ich weiß, dass Sie sie nicht …«
»Danke«, fiel ihm Sarah ins Wort, murmelte eine Entschuldigung und drängelte sich an ihm vorbei. »Ich muss weiter.«
Im Tiefen Graben sind die Häuser alt, frühes oder spätes neunzehntes Jahrhundert. Ihr Mauerwerk ist von einem verblichenen Grauweiß oder Gelb, Eingänge und Fenster sind hoch und schmal, die Dächer unsichtbar.
Genau dort, knapp unter dem Himmel von Wien, verbrachte Rosen ihre Abende und Wochenenden auf großzügigen zweihundertzwanzig Quadratmetern. Für Georg hatte sie ein extra Musikzimmer abteilen lassen, das nur ihm allein zur Verfügung stand, daneben ein zweites Schlafzimmer mit eigenem Bad. Anders konnte sich die Psychotherapeutin das Zusammenleben mit einem Mann nicht vorstellen, aber es war auch kein richtiges Zusammenleben, eher so etwas wie Besuchszeiten, die sie ihm einräumte. Am liebsten traf sie sich mit ihm abends in der Küche, die in das Wohnzimmer überging und mehr einer Bar glich als einem Platz, an dem tatsächlich gekocht wurde. Eigentlich war es das Revier von Julieta, der argentinischen Haushaltshilfe, die sich in Dingen wie Kochen, Nähen, Einkaufen oder Putzen im Gegensatz zu Rosen bestens auskannte und Arbeiten im Haushalt übernahm, der ohne sie im Chaos geendet hätte. Julieta kam dreimal die Woche und wirbelte mit ihrem Hintern, bestimmt Georg zuliebe, eine Menge Staub auf.
Sarah Rosen, durchgefroren und zerzaust, hängte ihren Wintermantel an die Garderobe und rief nach Georg wie sie immer nach ihm rief, wenn sie nach Hause kam. Aber es war still, und weil sie keine Antwort bekam, blieb sie stehen, gab halblaut Entschuldigungen von sich, unterbrochen von Naseputzen und Husten.
»Na gut, ich hätte dich anrufen sollen«, sagte sie, »mein Wagen ist schrott. Tut mir Leid.«
Sarah ging ins Musikzimmer und spähte durch die Tür. Für gewöhnlich saß Georg hier über einer Leselampe gebeugt, transkribierte Noten oder machte in seinem Lieblingssessel ein Nickerchen.
Nichts!
Aus der Küche hörte sie, wie der Kühlschrank ansprang. Sarah schlich barfuß über das frisch gebohnerte Parkett, folgte dem
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