Die falsche Frau
hatte, bis sie nicht anders konnte, als nachzugeben?
Sarah wollte an diesem Abend die Schönheit der Stadt genießen, bevor sie am nächsten Morgen wieder aufstehen müsste, um an derselben Schönheit, bei Tageslicht betrachtet, vielleicht wieder zu zweifeln. Jetzt war sie bei Laune, und jetzt, kurz vor Weihnachten, war Wien ein Traum.
Sarah nahm ihren Mantel von der Garderobe, warf ihn, wie üblich, nur über den Arm, stieg in den alten, klapprigen Lift und blieb unten vor ihrer Haustür stehen.
So lange die Touristen dafür zahlten, ließ sich Wien gern als Geschenk verpacken, dachte sie und ging ein paar Schritte.
Ein schmaler Lichtstrahl glitt über die Fensterläden von gegenüber. Das Café Hawelka war heute geschlossen.
Sarah liebte Wien, das immer einen leicht modrigen Geruch verströmte. Vernarrt in die Trugbilder der Dämmerung, beschloss sie, noch eine Weile zu flanieren.
Menschen vor den Punschbuden sangen Weihnachtslieder. Alles war Zuckerguss. Überall gedämpfte Schritte. Die Stadt hatte sich unter dem Schnee in ein Märchen verwandelt.
Sarah war längst in fremde Stapfen gestiegen, wollte eine dieser vielen, flüchtigen Fährten aufnehmen, überlegte es sich aber auf halbem Wege plötzlich anders und drehte um.
Was, wenn sie einfach alles hinter sich lassen würde? Die Praxis, Georg, ihre Arbeit bei der Kriminalpolizei, diesen Alltag, der minutiös verplant war und der ihr heute so absurd vorkam.
Sarah Rosen spürte einen Kloß im Hals. Es war die Befürchtung, eines Tages völlig allein dazustehen. Was hinderte sie daran, ihren Gefühlen einfach freien Lauf zu lassen?
Den Oberkörper gegen den Wind gestemmt, ging Sarah Rosen ihrem Auto entgegen. Wie ein großes, gezähmtes Ungetüm stand ihr Jaguar da und schien sich mit einem Kotflügel, der elegant hervorlugte, nach links zu beugen.
Mit der bloßen Hand fegte Sarah den Schnee von den Fenstern, stieg ein, drehte mit eisigen Fingern den Zündschlüssel um und legte den Rückwärtsgang ein. Nach ein paar Zentimetern aber nieste und spuckte der Motor plötzlich nur noch und gab schließlich völlig seinen Geist auf.
Das kommt davon, dachte sie.
Die Lage war hoffnungslos.
Dinge, die aus heiterem Himmel geschahen und sich nicht gleich in Ordnung bringen ließen, brachten Sarah regelmäßig aus der Fassung. Wütend zog sie ihr Handy aus der Tasche, begann zu wählen und konnte sich am Ende doch nicht dazu entschließen, ausgerechnet jetzt Georg anzurufen, der für einen Musiker in technischen Dingen außergewöhnlich begabt war und erst letzte Woche ihren alten guten Toaster, der nicht mehr heiß werden wollte, wieder auf Hochtouren gebracht hatte. Sicher war Georg noch auf der Probe oder nahm gerade, laut Musik hörend, ein Schaumbad. Wahrscheinlich späte Beethoven-Streichquartette, und dann würde er das Läuten sowieso überhören.
Rosen schaltete ihr Handy wieder ab. Ihr Magen knurrte. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Das verdammte Auto, ihr Hunger oder die müden, schwarzumrandeten Augen, die sie bei einem prüfenden Blick in den Rückspiegel ansahen.
Dr. Rosen, die den ganzen Tag mit Patienten gearbeitet hatte, war kaum Zeit für eine Pause geblieben, schon gar nicht für ein Mittagessen, das sie sowieso gern ausfallen ließ. Sie war fast fünfzig und wollte kein Gramm zu viel auf die Waage bringen. Ausgerechnet sie, die sich bis vor kurzem immer noch jünger fühlte als alle anderen, spürte deutlich, dass sie es mit dem Alter zu tun bekam. Obwohl sie sich regelmäßig Fältchen wegzaubern ließ und blendend aussah, passierte es ihr in letzter Zeit öfter, dass sie sich nicht so großartig vorkam, wie die anderen es von ihr behaupteten.
Nervös klopfte Sarah auf das Lenkrad und beschloss, dass es nur das Licht war, dieses ungünstige Licht im Innern ihres Wagens, das sie so unvorteilhaft erscheinen ließ. Ihr würde also nichts anders übrig bleiben, als zu Fuß nach Hause zu laufen. In der Dunkelheit fuhr sie sowieso nicht gern Auto.
Über ihrer Arbeit, die sie langsam aber sicher blind für das Leben draußen machte, hatte sie ganz vergessen, dass bald der kürzeste Tag des Jahres bevorstand.
Sogar mitten im Winter kleidete sich Rosen am liebsten so, als würde das Jahr nur aus Frühling bestehen. Mit schnellen Schritten, den Mantel nur über den Arm gehängt, lief sie an Schaufenster vorbei, ging ein Stück über den Graben und verschwand in der Naglergasse. Aus ihrer Studentenzeit in London war sie es gewohnt, ohne
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