Die falsche Frau
Geräusch und lehnte ihren Kopf gegen die Tür. Das Vibrieren der Maschine an ihrem Ohr kam ihr vor wie der Motor eines großen Passagierschiffes auf offener See.
Plötzlich hatte sie Lust auf Maritimes, am liebsten hätte sie sich mit Miesmuscheln, Crevetten oder Lachs verwöhnt. Egal, Hauptsache Fisch, dachte sie und sah in den Kühlschrank, der außer ein paar Sorten Senfgläsern, Leberpastete in Madeira-Gelee und einer angebrochenen Flasche Brunello nichts zu bieten hatte.
Sarah nahm einen Schluck Wein, von dem sie mehr als ein Dutzend Kisten gelagert hatte. Dann pfiff sie den Anfang eines Klavierstücks, ganz bestimmte Takte, die ihr nicht mehr aus dem Ohr gingen, seit Georg daran übte. Irgendeine Fantasie in f-moll. Wahrscheinlich Schubert.
»Nun sei doch nicht so, ich bin eben unmusikalisch«, rief sie, obwohl sie annahm, dass sie doch musikalisch war und nur niemand ihr Talent gefördert hätte. Wie oft hatte sie Georg mit ihrem verstimmten Summen zur Verzweiflung getrieben, aber sie ließ sich nicht davon abbringen, ab und zu selbst ein paar Töne von sich zu geben, musste sie doch die meiste Zeit des Tages anderen zuhören, sogar Georg, dem sie allerdings einige interessante Klienten verdankte.
Einen Künstler mit Versagensängsten, der nach einem Blackout auf der Bühne nicht mehr auftreten wollte, eine Sängerin, die nach dem fünften Versuch einer künstlichen Befruchtung ihre Stimme verloren hatte und einen Geiger mit Ohrengeräuschen, die ihn, wie er felsenfest behauptete, vom Üben abhielten und komplett arbeitsunfähig machten. Alles Patienten, die sie im Grunde nicht lebensnotwendig brauchten, fand Sarah Rosen und stellte die Flasche wieder zurück. Außer Patrizia Heral, das war ein anderer Fall, an der hatten sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen, und es erfüllte sie mit Stolz, dass sie mit dieser Frau Fortschritte erzielt hatte. Aber das alles war nicht genug.
Ein ausgeprägter Helfertick führte dazu, dass sich Sarah bei aller Liebe zu ihren kulturbeflissenen, leicht neurotischen Patienten sogar freiwillig zum Notdienst auf der psychiatrischen Station des Allgemeinen Krankenhauses für die Betreuung weitaus schwieriger Fälle gemeldet hatte. Ehrenamtlich, weil ihr die therapeutische Hilfestellung der Patienten, die sie auch nach dem Notfall betreuen wollte, nun mal am Herzen lag und sie von kurzfristiger Behandlung nichts hielt.
Sie selbst stufte sich klar als Workaholic ein. Wer lässt sich schon freiwillig auf ein Leben für die Probleme anderer ein, dieser ständigen Inanspruchnahme, die weit über das Engagement in der Praxis hinausging? Sarah konnte nicht anders, sie hatte ihre Gründe. Es war wie ein Sog. Seit dem Tod ihrer Schwester, die sie eines Morgens tot vorgefunden hatte, erschossen von ihrem eifersüchtigen Liebhaber, der zuerst sie, dann sich selbst umgebracht hatte, sah es Sarah als ihre Pflicht an, für andere da zu sein. Nie wollte sie etwas anderes als Psychologie studieren, und das bedeutete für sie mehr als im Privat- und im Seelenleben anderer herumzustochern. Sie wollte Missstände aufdecken.
Nach ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin, hatte sich Sarah Rosen in die Kriminalistik gestürzt und gehörte zu der kleinen Gruppe an Gerichten zugelassener Spezialisten in Österreich, die sich Fallanalytiker nennen. Gerade als man in Wien über operative Fallanalyse zu sprechen begann, war sie eine der ersten, die sich für die psychologische Aufklärung schwerwiegender Straftaten engagierte: Es ging um Tötungsdelikte, Serienmorde oder sexuell motivierte Gewalttaten. Ihr Freund von der Mordkommission, Bruno Karlich, hatte sie nicht umsonst zwei Jahre lang durch die Ausbildung zur Fallanalytikerin geschleust, sie Seminare, Praktika und Vorlesungen zur operativen Fallanalyse besuchen lassen, eine relativ junge Disziplin, die in Österreich immer noch mit naturwissenschaftlichen Methoden konkurrierte und Richtern wie Staatsanwälten meist nicht mehr als ein Stirnrunzeln entlockte, als sei die Psychologie Quacksalberei.
Bruno Karlich sah das anders. Er war der Meinung, in Sarah, die allein durch Intuition und Erfahrungswerte, die sie in ihrer fast zwanzigjährigen Praxis als Therapeutin mit Patienten gesammelt hatte, eine geeignete Partnerin bei der Aufklärung von Mordfällen gefunden zu haben. Tatsächlich hatte Sarah Rosen die Theorien zur Kriminalpsychologie wie ein Schwamm aufgesogen und wurde gleich nach der Ausbildung eine gefragte Expertin für die
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