Die falsche Frau
Stunden erst hatte sie also einen überaus anregenden Opernabend verbracht, diese Zweistimmigkeit von Lachen und Weinen genossen, zusammen mit Georg. Georg, der alles über die Oper wusste, dieses große, pathetische Genre, das Offenbach als Lüge entlarvte, und zwar ohne es durch eine andere Wahrheit zu ersetzen als durch den Klang der Musik selbst, wie er sagte.
Normalerweise liebte sie Abende wie diese, aber heute konnte sie Georg nicht folgen. Ihre Gedanken kreisten nur um Patrizia Heral.
Was, wenn sie sich so sehr mit ihrer Rolle identifiziert hatte, dass sie nicht mehr in die Realität zurückfand? Möglich war alles.
Georg nickte nichtsahnend, als sich Sarah ihm näherte und Schluck für Schluck, in weniger als einer Minute, das bernsteinfarbene Getränk leerte.
Der Lärmpegel in der Bar hatte sich gesenkt. Nur noch wenige Gäste. Georg bekam das alles nicht mit. Er saß kerzengerade auf der Lederbank, die Partitur von Hoffmanns Erzählungen auf seinen Knien. Sarah sah, dass es der dritte Akt war, die Stelle, an der sich Antonia trotz Verbot ihres Vaters, nur ja nicht ihre Stimme zu erheben, zu Tode gesungen hatte.
Chantez!, hatte einer gerufen, und ein herzzerreißendes Liebeslied war über ihre dunklen Lippen gekommen, bevor sie niedersank.
Ob Emilia oder Antonia, Lessing oder Offenbach. Die Väter hatten ihre Töchter fest in der Hand, und das Übertreten ihrer Gesetze endete für beide tödlich.
Eifersucht, Neid und Rache sind die stärksten Motive für einen Mord, dachte Sarah, aber dann drifteten ihre Gedanken wieder ab.
»Wie viele Drinks hattest du?«, fragte Georg.
»Nur zwei«, sagte sie.
Georg zog die Nase kraus.
»Ich rieche aber vier. Du siehst müde aus«, sagte er zärtlich. »Gehen wir?«
Sarah hatte sich dicht neben ihn gesetzt, die Arme vor der Brust verschränkt und ihren schweren Kopf auf seine Schultern gelegt.
Ihr war so schön schwindelig, und sie wollte diesen Schwindel auskosten, so lange er anhielt.
»Gleich«, sagte sie. »Fünf Minuten noch.«
Wie gut er immer zu ihr war. Was wollte sie mehr?
Vielleicht nur ein wenig untergehen an seiner Seite, nur um zu spüren, wie die Wellen über dem Kopf zusammenschlagen, damit sie sicher wieder hochkommen könnte. Patrizia aber war verloren in einer Tiefe, der sie nicht ganz auf den Grund sehen konnte.
Konnte sich Patrizia so sehr in ihre Rolle steigern, dass sie die Musik aus den Angeln gehoben hatte?
»Liebling!«
Georg hatte seine Hand auf ihren Hals gelegt, sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken. Er begehrte sie, aber sie fühlte nichts.
Die Welt war ein einziges Drehmoment, in dem sie von ihm wegdriftete.
Sarah betrachtete ihr Kleid. Ihr Blick fiel auf die schwarz glänzenden Pailletten, die sich in spiegelnde Flächen verwandelt hatten.
Georg küsste sie überraschend heftig auf die Wange, aber sie wehrte ab und machte nur eine langsame Handbewegung.
»Das Lachen«, sagte sie, »das war teuflisch, findest du nicht?«
Er legte den Arm um sie und dann einen Finger auf ihren Mund.
»Am Ende ist alles nur ein Witz«, sagte sie und entfernte mit geschlossenen Augen seinen Finger von ihrem Mund. »Nur ein Witz. Ist Antonia nun am Lachen oder am Singen gestorben?«
»Beides«, sagte Georg, lächelte und klappte endlich die Partitur zu. »Der letzte ausgehaltene Ton, der in fallenden Sekunden in den Tod münden wollte, war in ein Lachen gekippt.«
Dann legte er den Arm um Sarah und dozierte, wie er immer dozierte. Die kleine Bar hatte sich im Nu in eine Höhle verwandelt, in der nur noch zwei schwache Lichter brannten.
Sarah und Georg.
»Lachen als musikalische Parodie«, sagte er.
»Lachen als Aggressionsabwehr«, lallte sie.
Ihre Augen trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde.
»Gegen den Tod«, sagte sie.
»Gegen das Leben«, sagte er.
Ein Schlagabtausch, den sie bestens beherrschten und der ihre Beziehung besser aufrecht erhielt als gelegentlicher Sex.
»Antonia ist doch nur das Kunstprodukt, das Gespenst dieses Hoffmann. Die Inszenierung wollte keinen pathetischen Tod zeigen. Bei Offenbach gibt es eben kein Baden im Liebesschmerz. Eine unglückliche Liebe ist es nicht mal wert, erlöst zu werden.«
Sarah lachte auf.
»Bestens«, sagte sie. »Da bin ich ja beruhigt.«
Draußen schloss Sarah die Augen und ließ sich von Georg wie eine Blinde bis vor die Haustür führen. Als sie wenig später im Badezimmer vor dem großen Spiegel neben ihm stand, sein fahles Fleisch, den tiefliegenden Bauchnabel
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